Wo darf ich zuhause sein?

Jörg Hirsch, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

joerg.hirsch@bluewin.ch

Daheim fühlte ich (w, 22) mich nie  wahrgenommen, alles drehte sich um meine drei älteren Geschwister. Dann lernte ich einen jungen Mann kennen, bei dem ich endlich das Gefühl hatte, gesehen zu werden, wie ich bin. Wir heirateten und sind glücklich miteinander. Da er einer Religionsgemeinschaft angehört, kam ich so in Kontakt mit seinem Glauben, der nun auch der meine ist – und ich fühle mich sehr wohl damit. Doch meine Eltern sind sehr unglücklich mit meiner Wahl und wollen mich am liebsten wieder da herausholen. Was soll ich tun?

 

Sie sind als Jüngste Ihrer Familie aufgewachsen, und Ihre Geschwister bestimmten das Bild, z. B. durch Gespräche am Esstisch? Sie gingen unter, und niemand hat es bemerkt? Sie galten als ruhig und zurückhaltend, waren aber in Wirklichkeit einfach nicht laut genug, um wahrgenommen zu werden? Sie fühlten sich in Ihrer Familie nie gesehen? Da muss sich eine Menge Frustration in Ihnen angesammelt haben!

Dann begegnen Sie einem jungen Mann, der Ihnen endlich die ersehnte Aufmerksamkeit schenkt. Und sein Glaube ist für Sie keine Irritation, sondern ein weiteres Geschenk. Da Sie von „Glauben“ sprechen, hat er wohl einen christlichen Hintergrund. Wenn man sich nicht zu den grossen Konfessionen bekennt, gilt man als einer Sekte zugehörig, und das wird oft mit Misstrauen betrachtet. Dass also Ihre Eltern mit Angst und Sorge um Sie reagieren, ist nachvollziehbar und wahrscheinlich geprägt von Nichtwissen oder von einer „Aussensicht“, die die Dinge anders bewertet, als Sie es von innen tun.

Jede Glaubensrichtung hat eine eigene Sicht auf den Kern des Lebens, meist überzeugt davon, die einzig richtige Sicht zu haben. Das wäre ja vielleicht gar nicht das Problem, sondern eher, wie sich das Verhältnis zu den andern gestaltet. Die Abgrenzung gegenüber Anders- oder Nichtgläubigen dient ja auch dazu, die eigene Überzeugung zu festigen. Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten zwischen den Glaubensrichtungen: Alle sind sich darin einig, dass man sich bemüht, ehrlich zu sein und ein guter Mensch im Sinne seiner Überzeugung; ein Leben zu führen, das dem Wohl des Ganzen dient, und dabei ein offenes, mitfühlendes Herz für andere zu haben. Ist das auch für Sie so? Dann haben Sie vielleicht Ihren Eltern gegenüber Überzeugungsarbeit zu leisten, nicht im Sinne von missionieren, sondern eher, um ihnen aufzuzeigen, dass Sie mit Ihrer Wahl glücklich sind und das Recht haben, Ihren Weg zum Glück weiter zu verfolgen. 

Wenn ich Sie recht verstanden habe, haben Sie aber auch noch Schweres in Ihrem Rucksack: Was hat das andauernde Gefühl, nicht gesehen zu werden, mit Ihnen gemacht? Hat es sich in Ihrer Persönlichkeit niedergeschlagen? Sind Sie vielleicht unsicher und schüchtern? Möchten Sie es anderen zu sehr recht machen? Dann beinhaltet Ihr weiterer Weg auch die Arbeit an der eigenen Person, die angemessene Abgrenzung, das Für-sich-selber-Einstehen. Das kann egoistisch erscheinen und im Widerspruch zu einer religiösen Überzeugung, aber ich finde, es ist weniger egoistisch, zu sich selber zu stehen, als sich „selbstlos“ hinter dem Wohlwollen anderer zu verstecken. Ihr Glaube kann Ihnen in der Persönlichkeitsentwicklung helfen, aber ebenso das Nachdenken über Ihre Lebensgeschichte, ganz Jesu Worten folgend, „ Vater und Mutter hinter sich zu lassen“, also die eigene Geschichte so zu verarbeiten, dass sie einem nicht mehr im Wege steht. Dann laufen Sie auch nicht Gefahr, sich im Groll von ihrer Familie abzusondern.

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