Daseinsanalyse

Die Daseinsanalyse gehört zu den tiefenpsychologischen Therapierichtungen. «Tiefenpsychologisch» heisst u.a., dass Symptome nicht nur als «Störungen» oder «Defizite», sondern auch als wichtige Hinweise gesehen werden, um herauszufinden, wo «etwas klemmt».

 

Oft ist es für die Betroffenen aus verschiedenen Gründen nicht so leicht, alleine darauf zu kommen, wo und warum etwas in ihrem Leben nicht (mehr) stimmt, und es braucht die Begleitung und Zuversicht einer Fachperson, um die Geschichte hinter dem Symptom zu finden. Nach dieser Sicht stellen psychische Leiden und Krankheiten also auch Chancen dar, um mehr von sich zu verstehen und im Leben neue Möglichkeiten zu realisieren. Meist verschwinden die Symptome oder schwächen sich stark ab, wenn die damit verbundene Geschichte gefunden und geklärt ist.

 

In einer daseinsanalytischen Therapie werden Symptome nicht generell auf bestimmte Kindheitserlebnisse zurückgeführt, sondern als aktuelle Auseinandersetzung mit Wünschen, Ängsten und Grenzen angesehen. Ein besonderer Schwerpunkt der Daseinsanalyse liegt darum darin, das, was den Patienten / die Patientin beschäftigt, möglichst genau und ohne Wertung zusammen anzusehen und zu verstehen zu suchen. Dabei werden neben dem direkt Erzählten auch Träume, Körperwahrnehmungen und eben die Krankheitssymptome beachtet.

Hintergründe

Die Bezeichnung «Daseinsanalyse» geht auf den philosophischen Begriff «Daseinsanalytik» zurück. Mit diesem Begriff hat Martin Heidegger in seinem frühen Werk «Sein und Zeit» (1927) grundlegend neu zu fassen gesucht, was eigentlich den Menschen zum Menschen macht.

Heidegger sah das typisch Menschliche u.a. darin, dass der Mensch weiss, dass er «da» ist; er nennt den Menschen darum einen «Da-Seienden» und seine Philosophie des Menschen «Daseinsanalytik».

 

Mit der Feststellung, dass der Mensch um sein Dasein weiss, sind zwei Dinge gesagt:

  • Der Mensch ist sich seiner bewusst. Er kann über sich nachdenken – aber auch, wenn er nicht bewusst nachdenkt, «weiss» er in einem gewissen Sinn immer, dass es ihn gibt: Schon ganz kleine Kinder fragen «warum?», Menschen vergleichen sich mit anderen, sind mit ihrem Leben unzufrieden oder fürchten sich vor etwas in der Zukunft Liegendem – und immer hat das nach Heidegger letztlich mit dieser grundlegend menschlichen Fähigkeit zu tun, sich seiner irgendwie bewusst zu sein. Dieses Wissen ist aber nicht nur eine Auszeichnung, sondern beschert dem Menschen auch typisch menschliche Leiden, welche andere Lebewesen so bzw. in dieser Tiefe nicht kennen: Angst bis hin zur Angst vor dem eigenen Sterben, Schuld, Scham, Auflehnung gegen das Dasein, d.h. gegen die Tatsache, dass und wie ich bin und gegen das Faktum, dass ich ein-mal sterben muss...
  • Der Mensch ist immer irgendwo. Er ist nie isoliert «nur er»; zum Menschsein gehört, dass man immer in irgendeiner Situation, einer bestimmten Zeit, in einem konkreten Lebensvollzug drinsteht. Ich lebe heute, im 21. Jahrhundert, in Mitteleuropa, als Frau oder Mann, mit einem bestimmten Alter, bestimmten Erfahrungen, Begabungen, Grenzen – und all das macht mein Menschsein aus; es «gibt» mich nicht losgelöst von all dem. Darum spricht Heidegger davon, dass der «da» ist: ihm ist wichtig auszudrücken, dass niemand nur «ist», sondern jeder Mensch jederzeit in einer/seiner Welt ist. Auch das prägt also den Menschen: Die Welt, wie sie ist und war, mit allen Erfahrungen von Fülle und Mangel, mit den typischen Eigenheiten, welche sie zu seiner Welt, seinem Leben machen – und auch das kann Angst, Schuld, Scham, Auflehnung... auslösen.

 

Zuerst Ludwig Binswanger, später Medard Boss und aktuell Alice Holzhey, sind in ihren psychotherapeutischen Überlegungen – mit je unterschiedlicher Färbung – von diesen philosophischen Einsichten über den Menschen ausgegangen. Sie haben je eigene Schulen gegründet.

Wie prägt dieses philosophische Menschenbild nun die psychotherapeutische Praxis? Wenn Patient:innen eine psychotherapeutische Praxis aufsuchen oder dahin geschickt werden, so nach allgemeiner Auffassung darum, weil sie eine «Störung» haben oder ein «Defizit»; ihre Leidenssymptome gelten damit entweder als sinnlos/überflüssig (Zwänge, Ängste, Süchte, psychosomatische Beschwerden...) oder es fehlt den Patient:innen etwas (Selbstvertrauen, Emotionalität, Beziehungsfähigkeit...).

Aufgrund ihres Verständnisses vom Menschsein sehen DaseinsanalytikerInnen das anders: Auch sie lassen gelten, dass Leidenssymptome das Leben oft sehr stören und beeinträchtigen können und die Patient:innen begreiflicherweise davon frei werden möchten. Sie versuchen aber, dieses Ziel auf dem Weg zu erreichen, dass der Betroffene sich und seine Symptome ernster nimmt als bisher: Seit wann leide ich? Wie äussert sich das Leiden? Warum macht mir gerade das eine und nicht etwas anderes Mühe? Es geht darum, in gemeinsamer Arbeit herauszufinden, wie der Betroffene umgeht mit seinem «Wissen um sich selbst» und seinem «In-der-Welt-sein».

Mit anderen Worten besagt das, dass die Symptome nicht einfach sinnlos sind, sondern gerade etwas Wichtiges bedeuten: Ganz grundsätzlich das oben Ausgeführte, dass Menschen um sich und ihre Welt wissen und dass dieses Wissen sie gerade als Menschen ausweist. Spezifischer, dass der einzelne Patient / die konkrete Patientin sich an einer oder mehrerer ihrer Lebensgegebenheiten reibt und dass das Symptom mehr darüber verraten kann, als es auf den ersten Blick scheint. Seelische Leiden werden in einer daseinsanalytischen Therapie also sehr ernst genommen; gerade Symptome können wichtige Hinweise geben zum Verständnis, worum es dem Patienten / der Patientin eigentlich geht (sog. hermeneutisches Vorgehen). Damit wird dem Menschen, jedem Menschen viel Wissen um sich zugetraut, ihm aber auch die Verantwortung zugemutet, sich mit seinem Leben auseinanderzusetzen und es aktiv zu gestalten.

Kennzeichnend für die Daseinsanalyse ist weiter das sog. phänomenologische Vorgehen. Gemeint ist damit, dass nicht eine bestimmte Theorie über das Innere des Menschen den Therapeuten / die Therapeutin leiten soll, sondern das Bestreben, «das, was sich zeigt» - Patient:innen, wie sie sind, was sie sagen und wie sie empfinden, wie sie reagieren und was sie im Therapeuten / in der Therapeutin auslösen - möglichst unvoreingenommen wahr zu nehmen und von daher das Leiden der PatientInnen zu verstehen zu suchen. Der Therapeut / die Therapeutin «weiss» also nicht schon von vornherein, von einer Theorie her, worum es dem Patienten / der Patientin eigentlich geht, sondern dem ist in der gemeinsamen therapeutischen Arbeit auf die Spur zu kommen. Ziel ist dabei, dem Patienten / der Patientin durch die gemeinsame Verständnisarbeit einen neuen Umgang zu ermöglichen: Mit sich selber, der Welt sowie eigenen und fremden Grenzen - ein Umgang, welcher die bisherigen Symptome überflüssig macht und ein Leben in grösserer Freiheit erlaubt.

 

Der daseinsanalytische Ansatz erweist sich bei psychischen Leiden aller Art, gerade aber auch bei psychosomatischen Beschwerden als hilfreich.

 

Lit. A. Holzhey-Kunz, Leiden am Dasein, Passagen-Verlag 1994 www.daseinsanalyse.ch