Vom Aufhören

Peter Schwob, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

schwob@psychotherapie-bsbl.ch

Mein Coiffeur hört auf. Ladenlokal zu vermieten, 30 m2, verkündet ein grosses Schild im Schaufenster an meiner Strasse, wo sonst nur Coiffeur-Witzzeichnungen hingen. Letzte Woche, als ich bei ihm sass, erzählte er, er müsse heute zum Arzt, seine rechte Schulter tue ihm weh, und seit gestern steht da das Schild. 81 ist er, aus Kalabrien, seine Frau ist vor einigen Jahren gestorben, zuhause war es ihm langweilig, Rente hat er wenig, also arbeitete er weiter. Wie imme?, fragte er jedes Mal in mehr als zwanzig Jahren, und: Lasse me trocke? Im Sommer hört er auf. Falls er es bis dahin schafft mit den Schmerzen. 

Während ich das Schild las, kam er heraus, mit Tränen in den Augen. Es gehe nicht mehr, sagte er, und der Arzt habe ihm keine Hoffnung gemacht. Irgendetwas im Schultergelenk, von immer denselben Bewegungen. Einmal sei es halt so weit. Sie werden mir fehlen, sagte ich, und er: Mir wird es auch fehlen.

Mein Hausarzt ging ebenfalls in Pension, vor ein paar Jahren, und es  traf mich wie ein Schlag. Das kannst du nicht machen, sagte ich und wusste, dass ich dumm rede. Aber er hatte auf seine burschikose Art aufgepasst auf mich, viele Jahre. Ich hatte ihm vertraut und fühlte mich schutzlos ohne ihn. Nun musste ich selber auf mich aufpassen. Natürlich habe ich einen neuen Hausarzt gesucht, er ist OK, aber ein so derb-freundschaftlich-klares Verhältnis wie zum alten habe ich zu ihm nicht. 

Als meine Eltern starben, überkam mich ein ähnliches Gefühl der Schutzlosigkeit, obwohl ich längst erwachsen war: 41 beim Tod des Vaters, 63 bei dem der Mutter. Ihr gegenüber war dieses Gefühl  absurd, denn ihre letzten Jahre, gebrechlich und dement, war ja ich der Sorgende gewesen, nicht mehr sie. Aber natürlich klang in dem Gefühl, verlassen worden zu sein, die Geborgenheit des Kindes an, auch wenn sie Lücken und Fallen gehabt hatte. Sie hatte trotzdem bis ins Erwachsenenalter überdauert, als fraglose, höchst selten bewusst gedachte, leise Sicherheit im Hintergrund, und trat erst im Moment ihres Endes wirklich ins Denken.

Im Sommer hört nicht nur mein Coiffeur auf, auch ich schliesse meine Praxis, nach 31 Jahren. Lange ist mir diese Vorstellung fremd gewesen, in letzter Zeit freue ich mich zusehends mehr darauf. Ich werde schneller müde, gebe die Last gerne ab. Auch wenn ich gleichzeitig weiss, es ist falsch: Nicht ich sollte das Ende einer Psychotherapie vorgeben. Es sind die PatientInnen, die sagen können sollten: Jetzt ist es gut, oder gut genug, jetzt möchte ich aufhören. Auch wenn ich nur wenige Therapien neu anfing in den vergangenen Jahren und die aktuellen PatientInnen seit Langem wissen, dass ich aufhöre, plagt mich das Wissen, sie, die auf mich vertrauen, vor eine vollendete Tatsache zu stellen. Aber es ist so, ich habe mein Alter nicht gewählt. Und, aus diesem Blickwinkel noch schlimmer: Ich sehe der absehbaren freien Zeit gespannt und freudig entgegen, auch wenn „es“ mir auch fehlen wird. Ich freue mich aufs Reisen, aufs Lesen, aufs Entscheiden mehr von Moment zu Moment. Jedenfalls bis irgendetwas in meinem Körper nicht mehr geht.

Abschied nehmen ist  traurig. Erik Eriksson spricht in seiner Entwicklungspsychologie der Erwachsenen davon, die Lebensaufgabe im Alter bestehe darin, all das zu integrieren, was früher gewesen sei. Es zu sich zu nehmen, als Eigenes zu anerkennen, nicht bitter zu werden. Im Masse, wie das gelingt, wird das Abschiednehmen nicht weniger traurig, aber vielleicht erträglicher.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0