Vom Leben und Sterben – ein kleiner Blick auf ein großes Thema

Monika Röder

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

kontakt@paarpraxis-basel.ch

Mein Sohn liebt Tiramisu. Bevor er uns das letzte Mal besuchte, stand ich in der Küche und bereitete die besondere Mischung aus Espresso, Amaretto und Marsala zu, die in unserer Familie so beliebt ist – oder beliebt war? Nach dem Essen offerierte ich das Tiramisu, was strahlende Augen erzeugte – doch nicht bei ihm. „Nein, danke. Ich möchte kein Dessert mehr.“ „Aber du mochtest es doch immer so gern?“, fragte ich zurück. Ja, er möge es immer noch, berichtete der Sohn. Aber jetzt sei er satt und zufrieden und er esse Süsses nur noch, wenn er wirklich großen Appetit darauf habe. Im weiteren Verlauf des Besuches sah ich ihn Cashewkerne knabbern, er stand früh mit mir auf, und wir liefen zusammen eine Runde durch den Wald. Auch an seinem neuen Wohnort mache er viel Sport. Außerdem höre er häufig Health-Podcasts wie beispielsweise die des Stanford-Professors Andrew Huberman, und er zeigte sich top informiert über die nachweislich lebensverlängernden Auswirkungen einer gesunden Lebensweise. Mein Mann und ich sind erstaunt und verwundert und erfreut. Ist das unser Sohn, der früher nicht aus dem Bett kam und zockte, anstatt sich zu bewegen?

Seit Jahren gibt es zunehmend Evidenz dafür, dass wir durch eine gesunde Lebensführung Lebenszeit gewinnen können. Schon eine Viertelstunde Bewegung am Tag senke das Risiko eines frühen Todes um 14 Prozent und steigere damit die Lebenserwartung um drei Jahre, heisst es. Einzelne Sportarten wirken etwa laut der „Copenhagen City Heart“-Studie wahre Wunder. So verlängere Tennis das Leben um 9,7 Jahre, Fussballspielen um 4,7 Jahre und Schwimmen um 3,4 Jahre. Viele Aspekte wie etwa das Geschlecht, Ausbildung, Alkohol- oder Zigarettenkonsum, haben Einfluss auf die Lebenserwartung und werden regelmäßig wissenschaftlich untersucht. Selbstverständlich betrifft das auch unsere Ernährung. Seit Kurzem gibt es einen von Forschenden der Universität Bergen entwickelten Kalkulator, der berechnet, um wie viele Jahre sich unsere Lebenszeit verlängert, wenn wir uns vor allem von Nüssen, Gemüse und Vollkornprodukten ernähren.

In meiner Praxis meldet sich eine junge Frau an, die sehr gesund lebt. Bei ihr ist eine Essstörung daraus entstanden, die allerdings nicht so aussieht, dass sie sich in Essanfällen Eiscreme und Torten reinstopft und erbricht, sondern sie kann die Kontrolle ihrer „gesunden“ Lebensweise nicht mehr lassen. Aufgewachsen mit Influencerinnen auf Instagram und Co., sei sie geprägt von schönen, überschlanken Menschen. Seit Jahren folge sie YouTuber:innen, die Tipps für Schönheit, Ernährung, Sport und Gewichtskontrolle geben. Sie könne nichts mehr spontan essen. Die Ernährung sei proteinbasiert, und alle Arten von Kohlenhydraten seien verboten. An ihrem Körper müsse jede Stelle „definiert“ sein, und das Intervallfasten, das sie zur Entschlackung eingeführt habe, könne sie nicht mehr stoppen. Sie sei seit Jahren stabil untergewichtig, fühle sich bei Arbeit und Sport kraftlos und leide unter dem Stress. Eigentlich macht sie alles richtig – aber leider zu viel davon.

Ich frage mich, warum wir Menschen uns immer wieder in diesen Sog der Selbstoptimierung von Schlankheit, Schönheit und Leistung ziehen lassen. Was haben wir davon? Können wir nicht wahrhaben, dass wir alle sterblich und unperfekt sind? Gibt es eine Grenze, bis zu der eine gesunde Lebensführung noch gesund ist? Und was machen wir mit der gewonnenen Lebenszeit?

Szenenwechsel: Die Mutter meiner Sandkastenfreundin ist 89 Jahre alt und hat entsprechend wissenschaftlichen Empfehlungen alles richtig gemacht. Vor der Demenz seit Anfang 80 hat sie sich nicht schützen können. Weil ihre Kinder berufstätig sind und teilweise weit entfernt leben, mussten sie die Mutter ins Pflegeheim geben. Ich kenne die Familie seit meiner Kindheit. Die Mutter war stets eine Frau, die positiv dachte, beste Umgangsformen pflegte und sich gewählt ausdrückte. Auch in Sachen Gesundheit war sie gut informiert und engagiert. Seit ihrer Demenz ist sie unzufrieden. Sie erkennt ihre Kinder noch, aber die Verwandtschaftsverhältnisse kann sie nicht mehr verstehen und zuordnen. Sie weiss nicht mehr, welchen Beruf sie hatte, wie viele Kinder sie hat und dass es noch ein Haus gibt, das ihr gehört. Vergangenen Monat kam ein Schreiben des Pflegeheims: Die Preise würden erhöht. Die alte Frau war früher Lehrerin und erhält eine gute Pension, doch die vergangene Zeit im Heim hat ihr liquides Vermögen weggeschmolzen. Ihre Kinder müssen die monatlich knapp 4000 € (in der Schweiz können die Beiträge, wie ich höre, doppelt so hoch werden) jetzt aus eigener Tasche zuschiessen. Der Gedanke, das Haus zu verkaufen, spaltet die Geschwister in Pragmatiker und solche, denen es das Herz bricht, zu verkaufen, solange die Mutter noch lebt. 

Letztes Wochenende begleitete ich meine Freundin ins Pflegeheim. Ihre Mutter lag im Bett und wirkte apathisch. Als wir das Zimmer betraten, erkannte sie uns und freute sich wie ein Kind. Sie wusste nicht mehr, wer ich bin, aber mein Gesicht war ihr vertraut. Wir tranken Kaffee und assen Kuchen, und ich war fasziniert von ihrer Fähigkeit, fehlende Gedächtnisinhalte durch sprachliche Finessen zu überspielen, sodass ein fliessendes, völlig inhaltsleeres Gespräch entstand. Als wir unseren Abschied ankündigten, brach sie in Tränen aus. Wir stächen ihr mitten ins Herz, schrie sie uns entgegen, tobte und weinte ungehemmt. Erst kämen wir und machten ihr eine Freude, dann gingen wir wieder. Das sei so brutal. Wann sie endlich jemand erschiessen werde? Sie möchte hier weg, sie möchte sterben. Als wir das Haus verliessen, erwischte meine Freundin einen  Arzt und fragte ihn, wie er das Befinden ihrer Mutter einschätze. Sie sei top gesund, lachte er, so könne sie noch jahrelang leben.

Bei der Frage nach Leben und Sterben geht es meiner Meinung nach nicht nur ums Wann, sondern auch ums Wie: Wie kann dieser verlängerte Lebensabschnitt aussehen? Was brauchen Menschen, die sehr alt und damit mit steigender Wahrscheinlichkeit dement sind, in ihren letzten Jahren, solange es dafür noch keine Heilung gibt? 

Meine eigenen Eltern sind Mitte 80 und noch selbständig. Doch was wird mit ihnen geschehen, wenn sie nicht mehr allein können? Was bedeutet die Betreuung eines schwer dementen oder anderweitig pflegebedürftigen Menschen? Wäre ich bereit, meinen Beruf dafür aufzugeben? Und wenn ja, wie würde das aussehen in unserer kleinen Hausgemeinschaft? Wäre das die richtige Umgebung für einen alten Menschen? Und könnte ich gewährleisten, 24/7 parat und konstruktiv zu sein, auch wenn ich nachts mehrfach gestört werde und sich die Persönlichkeit meines Vaters oder meiner Mutter destruktiv verändert? Wäre das wirklich gut für die beiden?

Ich fürchte, ich selbst und unsere Gesellschaft sind auf diese Herausforderung schlecht vorbereitet. Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich, 56-jährig, nach meinen Yoga-Übungen eine gesunde Bowl mit gebackenem Gemüse, Salat, Mango, Kichererbsen und Cashewcreme zubereite. Auch ich arbeite daran, möglichst lange gesund und fit zu bleiben. Aber wie will ich alt werden und sterben? Kann ich es mir leisten, dement und pflegebedürftig zu werden? Wie werden unsere Leben zu Ende gehen, wenn wir länger leben und unsere Herzen, unterstützt von Schrittmachern und Stents, tapfer weiterschlagen? Ich werde mich am Wochenende mit meinem Mann darüber austauschen, wie wir persönlich damit umgehen wollen, nehme ich mir vor – dann schiebe ich die schweren Gedanken wieder weg. Ich checke, ob ich heute genug getrunken habe, und gehe dann früh schlafen, weil das die Lebenserwartung erhöht.

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