Alles ist schmutzig

Susann Ziegler, lic. phil.

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

susann.ziegler@bluewin.ch

Seit meiner Jugend bin ich (m, 22) sehr reinlich, seit letztem Jahr wird es mir langsam zu viel mit all dem Waschen und Putzen. Mittlerweile falle ich auf und ziehe mich deshalb vermehrt zurück. Muss ich jemandem die Hand geben, suche ich schon ganz nervös die nächste Waschgelegenheit, um all die Bakterien wieder loszuwerden. Logisch, muss ich mehrere Male seifen, und meine Haut ist schon ganz rissig. Innerlich bin ich dann so beschäftigt mit der Wascherei, die es braucht, dass ich mich nicht auf das Gegenüber konzentrieren kann. Das ist nur ein kleines Beispiel. Ich bin natürlich auch zuhause hauptsächlich mit der Sauberkeit beschäftigt. Ausgang wäre mir nur eine Qual, und eine Freundin zu finden somit unmöglich. Wenn ich je mit einem meiner wenigen Freunde darüber rede, sagt er, ich sei krank. Langsam glaube ich es auch, denn ich leide wirklich. Ich weiss nicht mehr weiter!

 

Ihre sehr anschauliche Beschreibung passt zu einer Zwangsstörung, worunter etwa 2% der Bevölkerung leiden. Bei der spezifischen Form des Waschzwanges werden Sie ohne professionelle Hilfe, das heisst ohne Psychotherapie, kaum weiterkommen. Ihre ausgezeichnete Beobachtungsgabe dürfte dabei sehr hilfreich sein. Zu Recht erschrecken Sie über die Lebens-Einschränkungen, die Sie auf sich nehmen «müssen». Es ist sehr typisch, dass die Zwänge mehr und mehr die Herrschaft über Ihren Alltag gewinnen. Sie haben bereits gewisse Strategien gefunden, um Ihre Rituale verborgen zu halten, allerdings um den Preis des sozialen Rückzugs.

In einer Psychotherapie geht es vorerst darum, wie Sie als junger Mann dieses Symptom so weit in den Griff bekommen, dass Sie wieder am Leben teilhaben können. Als nächstes gilt es zu verstehen, was für Motive dahinterstehen. Von der Vernunft her ist ja auch Ihnen klar, dass andere Menschen es mit der Hygiene viel lockerer nehmen und dennoch keinen gesundheitlichen Schaden davontragen. Allein mit der Vernunft ist dem also nicht beizukommen.

In einem Zwang können viele Beweggründe verborgen sein: Ganz sicher lenkt er von etwas ab, was Ihnen noch unangenehmer scheint, auch wenn Sie es nicht benennen können. Es handelt sich um eine unbewusste Reaktion, die verschlüsselt daherkommt und deshalb «decodiert» werden muss. Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele: Abwehr sozialer und intimer Kontakte, im speziellen von Sexualität («schmutzige» Gedanken dürfen nicht sein); Aggressionen, die nur in Form eines Zwanges gebunden werden können (Wut, der Sie etwas entgegensetzen, um sie nicht direkt fühlen und äussern zu müssen); Erziehungsmuster, welche die vermeintliche Ohnmacht durch Kontrolle zu überwinden versuchen; Bedürfnis nach Sicherheit und Unversehrtheit etc.

Welche Form von Psychotherapie für Sie geeignet ist, müssen Sie ausprobieren. Konzentrieren Sie sich nicht ausschliesslich auf Ihr Symptom des Zwanges, sondern beziehen Sie Ihre Vergangenheit und Ihren Werdegang mit ein. Es geht ja darum zu verstehen, warum Sie Ihr Leben gerade auf diese Art meistern. Nebst der Einzeltherapie gibt es in der ganzen Schweiz Selbsthilfegruppen zu diesem Thema, wo Sie mit Gleichbetroffenen Erfahrungen austauschen können. Mit einer Behandlung empfehle ich Ihnen baldmöglichst zu beginnen. Die sozialen Folgen spüren Sie ja bereits: Ausgegrenzt werden und sich selbst ausgrenzen. Ihr Leidensdruck dürfte es Ihnen erleichtern, dranzugehen.

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