Klima, Corona, Krieg – und was nun?

Jörg Hirsch, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

joerg.hirsch@bluewin.ch

Das Klima zerrt, die Umweltverschmutzung drängt, Corona ist allgegenwärtig, und schliesslich dieser Krieg in der Nachbarschaft, der uns alle berührt und uns trotz aller Hilfsbereitschaft für die Flüchtenden hilflos macht. Ist doch klar, dass Putin der Böse ist! Es gibt aber auch  Stimmen, die das anders werten. Alles Blödsinn? Genauso Blödsinn wie die Gründe der Impfverweigerer?

Was ist dann die Wahrheit? Weise Leute sagen, dass die Wahrheit jenseits aller Polaritäten liegt, dass jede Sicht auf die Wahrheit eine perspektivische Sicht ist. Was heisst das? Vielleicht, dass in jeder (relativen) Wahrheit, die als solche polar ist, auch immer das ungesagt Andere mitschwingt? Dass auch die andere Seite aus ihrer Sicht durchaus recht haben mag für ihre Position? Dass also die Impfgegner in vielem recht haben mögen, dass auch Putin aus seiner Sicht durchaus Anlass hat, dem Westen und der Nato zutiefst zu misstrauen, dass ein abschliessendes Urteil des historischen Abstands bedarf?

Ich gehe davon aus, dass die Wahrheit frei von Bewertungen ist, die aus meist unbewussten Emotionen genährt sind. Ich rede jetzt nicht von der persönlichen Wahrheit, wo jeder seine eigene haben mag, sondern von einer, in der alle unsere unterschiedlichen Wahrheiten aufgehen. Und dass man sich dieser Wahrheit dann annähern kann, wenn die emotionale Beteiligung nachgelassen hat und man die Daten und Fakten einfach so nehmen kann, ohne gleich in einen vorbewussten, quasi vorgegebenen Interpretationsraum zu fallen. Das heisst dann wohl, dass wir Zeit brauchen, um zu einem abschliessenden Urteil zu kommen, welches dieser Wahrheit nahekommt.

Aber haben wir diese Zeit? Klima und Umweltverschmutzung drängen zum Handeln. Bomben und Raketen verwüsten die Ukraine und töten Menschen, die Pandemie braucht Antworten. Meine Sicht darauf und meine Handlungsbereitschaft empfinde ich als eingeschränkt. Es fehlen verlässliche Daten, und dennoch ist Handlung nötig, z. B. in Form tätiger Liebe, im Zugewandt-Sein, im tätigen Mitgefühl, aber auch auf überindividueller Ebene, im Staat.

Wenn die Wahrheit sowohl die positive, lichtvolle Seite, als auch die negative, schattige gleichermassen beinhaltet, dann heisst das ja wohl, dass diese zwei Seiten in der Wahrheit verbunden sind. Dann gibt es weniger Entweder-Oder und mehr Sowohl-als-Auch, Integration statt Alleinseligmachendes, dann wird die Verbundenheit zu so etwas wie einem Zauberwort: Wenn ich wirklich mit mir verbunden bin, dann haben auch die schattigen Aspekte meines Seins ihren Platz, dann bin ich verbunden mit meinem Körper, wie mit meinem Geist, meiner Seele... Wenn ich verbunden bin mit mir, dann bin ich auch verbunden mit anderen, ja, mit allen und allem. Dann bin ich auch verbunden mit der Erde, auf der ich stehe. Dann kann ich mich als Kind dieser Erde wahrnehmen. Dann ist Achtsamkeit das Mittel, mich immer wieder in dieser Verbundenheit zu finden.

Doch was ich im Alltag erlebe, ist Ausschliessendes. Und dieses Ausschliessende beruht doch wohl einzig auf der Natur des Egos, oder? Z.B. ausgedrückt in den Worten: Ich will haben! Verbindung macht es möglich, Unterschiede wahrzunehmen, ohne auszuschliessen. Das Ego ist aus seiner Natur heraus nicht empathisch, nicht mitfühlend, ist also nicht verbunden. Was ich im Alltag erlebe, ist, dass in unserer Kultur das Ich-Bewusstsein alles ist und  ein Wir-Bewusstsein im Sinne eines Gruppen-Ichs sich ihm unterzuordnen hat. Ein umfassendes Wir-Bewusstsein ist unserer Kultur fremd. Doch das brauchen wir, wollen wir die anstehenden Probleme lösen.

Zum Beispiel Klima-  und Umweltprobleme, alle entstanden durch unaufmerksamen, gierig-egoistischen Umgang mit dem, was uns “gegeben” wurde. Wurde da etwas missverstanden mit dem “Macht euch die Erde untertan!”, oder wurde da etwas falsch übersetzt? Dann die Pandemie: In ihr geben beide Seiten (Impfbefürworter und Impfgegner) ein schlechtes Bild ab, jede Seite tendiert dazu, die andere zu diffamieren. Doch aus einer gewissen Distanz gesehen haben offenbar beide Seiten sowohl recht wie unrecht. Und dann noch dieser Krieg. Angelegt in den 90-ern. Putin war Geheimdienstler, d. h. er war (und ist wohl immer noch) vertraut mit Aktionen und Hintergründen der westlichen Seite. Und die hatte ja wohl tatsächlich das Bestreben, Russland zu schwächen, einzukreisen, die Nato mehr in den östlichen Raum wachsen zu lassen etc. Dass aus dieser Sicht heraus er sich irgendwann “gezwungen sah” einzugreifen und diese Tendenz zu stoppen, ist nachvollziehbar. Dass und vor allem wie er es nun tat, ist schrecklich und geht gar nicht.

Wer hat recht? Diese Frage scheint schwer zu vereinen zu sein mit der Verbundenheit. Aber ist diese Frage tatsächlich so wichtig? Hat nicht jede Seite recht wie unrecht? Und jetzt?

Wo stehe ich, wo steht jede und jeder von uns? Zu erwarten, dass sich andere in dem von mir gewünschten Sinn ändern, klappt offenbar nicht. Revolutionen zielen immer auf Veränderung der anderen in dem von mir gewünschten Sinn. Doch das Bewusstsein der anderen lässt sich nicht mit Gewalt von aussen verändern. Es gilt also nicht der Marx'sche Ansatz: Sein verändert Bewusstsein. Der gelebte Kommunismus hat gezeigt, dass das nicht aufgeht. Vielmehr gilt: Bewusstsein verändert Sein!

Was bleibt also? Nur wenn ich mich selbst verändere, habe ich die Chance, dauerhaft Einfluss zu nehmen. Wenn ich das, was ich in Putin sehe und verabscheue, auch in mir finden  und die Angst und Not dahinter ins Auge fassen kann, wenn ich die Ängste der Impfgegner und  -befürworter ernst nehme, sie auch in mir finde, wenn ich in mir das Ausschliessende in Verbindendes umwandeln kann, Mitgefühl entwickle mit dem Teil in mir, den ich so gar nicht mag, dann habe ich den ersten Schritt hin zu einem Wir-Bewusstsein getan, das wesentlich mehr umfasst, als nur meine abgespaltene und verdrängte Seite in mir wieder zurückzuführen. Dann kann ich selbst den Frieden in mir finden, den ich bislang im Äusseren gesucht habe. Und dann haben meine Aktionen in der Aussenwelt eine völlig andere Wirkung, als wenn ich dieselben Handlungen aus Ärger, Frust, Angst und Aggression gemacht hätte. Und wenn mehr und mehr Leute diesen Schritt hin zu sich selber, weg vom trennenden Egoismus tun, dann haben wir noch eine Chance. Das kann man dann als Graswurzelrevolution bezeichnen.

  • Im Äusseren kann ich Hilfsaktionen unterstützen und starten.
  • Mich in Empathie und tätiger, zugewandter Liebe üben. 
  • Die kleinen, alltäglichen Egoismen, die sich gewohnheitsmässig in mir eingenistet haben, erkennen und Schritt für Schritt überwinden und ausmerzen.
  • Im Inneren kann ich mich um Verbundenheit mit dem gegenwärtigen Augenblick kümmern, Achtsamkeit in mir wachsen und in mir ein Gewahrsein entstehen lassen, das die Aussenwelt miteinbezieht. 
  • Die Verbundenheit pflegen; in den kleinen Dingen des Alltags achtsam sein; den gegenwärtigen Moment schätzen lernen; da sein.

Das löst erstmal keine der Umwelt- und politischen Probleme, und es schafft nicht die Existenz des Bösen und der Bösen aus der Welt.  Aber es schafft Grundlagen für gesunde Lösungen. Doch dazu braucht es Mitstreiter, andere, die in die gleiche Richtung schauen und bei sich den Hebel ansetzen. Sind Sie dabei?

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