Mit meinem Körper mache ich, was ich will

Gisela Zeller-Steinbrich

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

zeller.steinbrich@bluewin.ch

Meine Tochter (15 Jahre) will sich ein grosses, buntes Tatoo stechen lassen. Ich finde das geschmacklos und vulgär. Sie sagt, alle machten das und sie könne mit ihrem Körper machen, was sie will, er gehöre ihr. Ich fürchte aber, dass ihr später im Beruf Nachteile daraus erwachsen könnten.

 

Das erste Argument Ihrer Tochter dürfen Sie vergessen: „Alle machen das“ ist das übliche Druckmittel gegen widerspenstige Eltern. Sie können Ihrer Tochter sagen, dass Sie dafür verantwortlich sind, dass sie nicht Dinge tut, die ihr schaden und später leid tun können. Sie können Ihr Einverständnis, das normalerweise bis 18 Jahre erforderlich ist, verweigern und natürlich auch eine Beteiligung an den Kosten. Aber mit Tatoos ist es ähnlich wie mit Drogen: Absolutes Verhindern geht kaum, Aufklären über die Risiken aber schon. Sinnvoller ist also, das Gespräch zu suchen: Ihre Tochter hat Recht, ihr Körper gehört ihr. Ohne Einschränkung machen, was sie will, kann sie allerdings (noch) nicht. Und Recht zu haben bedeutet ja auch nicht das Ende jeder Diskussion. 

Lackieren Sie sich die Nägel? Färben Sie sich die Haare? Haben Sie sich Ohrlöcher stechen lassen? An diesen Beispielen lässt sich erklären, dass es reversible und irreversible Veränderungen am eigenen Körper gibt, auffallende und solche, die privat und diskret bleiben, oberflächliche und körperverletzende, solche, die im Lauf der Zeit verschwinden, und solche, die immer bleiben, auch wenn sie sich, wie ein Tatoo, bei veränderten Körperkonturen mit den Jahren verzerren können. Beim Stechen gibt es Entzündungen, u.U. sogar Narben. Schädigende Wirkungen der Tinte auf den Körper sind möglich.

Anderseits: Das elterliche Geschmacksargument zieht nicht. Wenn Jugendliche sich die Haare grün färben oder im Grunge-Stil zurechtmachen, empfehle ich Grosszügigkeit. Stilfragen sind Identitätsfragen, und hier kann man ausprobieren und spielen. Oft geht es um Zugehörigkeit zu einer Gruppe, wie ja auch immer schon bei den Tatoos: Maori, Seeleute, Knastbrüder oder eine Gruppe Freundinnen, die es den Promis gleichtun wollen? Oder möchte Ihre Tochter in eine neue Haut schlüpfen, weil ihr nicht wohl ist in der eigenen? Meint Sie, das sei nur mit ganz konkreten und schmerzhaften Häutungserfahrungen möglich? Ein Tatoo-Studio in der Nähe nennt sich nicht zufällig „Second Skin“. Ist es eine Mutprobe in der Gruppe? Oder geht es eher darum, sich von Ihnen zu lösen, nicht mehr die stilgerechte Tochter aus gutem Hause zu sein, sondern sich von einer „bürgerlichen“ Mutter zu unterscheiden? Adoleszente heute haben oft Eltern, die einen sehr jugendlichen Stil pflegen. Da ist Abgrenzung nicht einfach.

Solange solche Fragen nicht beantwortet sind und keine Abwägung der Handlungsfolgen mit Ihrer Tochter erfolgt ist, lohnt sich die Auseinandersetzung. Wären ein gutes Fake-Tatoo wie bei der Schauspielerei oder ein Henna-Tatoo, das vergeht, ein Kompromiss? Think befor you ink. Tätowieren ist immer auch eine Körperverletzung.

Von der rituellen Tätowierung über die Body Art erwachsener Künstler bis hin zu suchtartigem Tätowieren, das Krankheitswert hat und dazu dient, ein seelisches Leiden nicht spürbar werden zu lassen: Die Spannbreite möglicher Bedeutungen ist gross. Ein Tatoo ist kein Schmuckstück wie ein Freundschaftsring, den man wieder ablegen kann. Eine Garantie für völliges Entfernen gibt es nicht. Es ist keine Spielerei. Es will sehr ernst genommen sein – wie die Heranwachsenden selbst.

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