Erschöpft

Brigit Milz, Dipl.-Psych.

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

birgit.milz@fsp-hin.ch

Seit der Geburt meines Sohnes vor drei Jahren fühle ich mich immer wieder sehr erschöpft und komme mit meinem sehr willensstarken, häufig schreienden Liebling regelmässig an meine Grenzen. Ich bin 30 Jahre alt und verheiratet. 

 

Es freut mich sehr zu lesen, dass Sie von Ihrem kleinen „Liebling“ schreiben. Es freut mich darum, weil ich darin zu lesen glaube, dass Sie ihren Sohn sehr gerne haben, mitsamt seiner Ausdrucksstärke, auch wenn diese für Sie immer wieder eine Herausforderung darstellt. Sie schreiben auch, dass Sie selbst sich immer wieder sehr erschöpft fühlen seit der Geburt des Kindes. Mutter resp. Eltern zu werden ist eine grosse Veränderung im Leben, für alle Beteiligten. Nichts ist mehr wie vorher und manches vielleicht auch nicht so, wie man sich das vorgestellt oder erträumt hat noch während der Schwangerschaft. Und je nach dem, wie der Start war, können schon der andauernde Schlafmangel und die wenige Zeit, die für einen selbst und für das Leben als Paar frei bleibt, sehr kräftezehrend sein. Ganz abgesehen davon, dass es auch noch berufliche Anforderungen gibt, die bestehen bleiben oder auf die verzichtet werden muss: Beides kann ebenfalls Anstrengung bedeuten und muss vom Paar neu ausgehandelt werden, und es gibt  nicht immer sofort eine für alle befriedigende Lösung.

Und last but not least haben wir in dem Alter, in dem wir Eltern werden, ja bereits eine lange eigene Geschichte mit guten und weniger guten Erlebnissen. Unsere Erfahrungen mit unserer Herkunftsfamilie werden aktiviert, wenn wir selbst Kinder bekommen: Das kann ein hilfreicher Fundus sein für die neue Rolle, aber auch alte Gespenster aufwecken, die wir  lange vergessen hatten, die jetzt aber unsere Handlungs- und Beziehungsfähigkeit als Eltern einschränken können.

Das alles hat zunächst mit ihrem Sohn als Person gar nichts zu tun, aber es bestimmt den Rahmen, in dem er aufwächst. Kinder in diesem Alter sind begierig darauf, Neues zu lernen und Gelerntes selbst tun zu können. Manchmal gelingt das gut, manchmal weniger, und beides kann auf der Gefühlsebene schwierig sein für das Kind. Gross zu sein, kann sich durchaus unheimlich anfühlen, weil man in dem Alter auch gerne mal wieder Baby sein will. Das ist emotional ein grosser Spagat, den es zu bewältigen gilt und der schnell zu Wutausbrüchen führen kann, wenn die Mama einem die Socken anziehen will, obwohl man das schon selber kann, oder wenn sie es nicht tut, obwohl man es heute grad gar nicht kann und dringend Hilfe bräuchte. Das kann bei ausdrucksstarken Kindern schnell ein Geschrei geben, und dann ist es aus der Erwachsenen-Perspektive nicht immer einfach, zu erkennen, was gerade notwendig ist. Dennoch haben grundsätzlich Sie die Führung und auch das Recht, einmal Nein zu sagen, wenn es Ihnen zu viel wird. Sie sehen: Sie stecken da gerade in einer für viele Eltern anspruchsvollen Entwicklungsphase mit ihrem kleinen Liebling. Zum Glück sind Sie sind damit nicht allein: Bestenfalls ist der Vater des Kindes an Ihrer Seite, was gegenseitige Entlastung ermöglicht, manchmal auch von eigenen Ansprüchen.

Scheuen Sie sich nicht, persönliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn sich die Situation für Sie nicht befriedigend verändern lässt. Es ist nützlich, mehr Menschen in die Entwicklungs-Begleitung einzubinden – das meint auch das afrikanische Sprichwort: Um ein Kind grosszuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.

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