Mit den Augen des Kindes schauen

Sabine Brunner, lic. phil.

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

brunner@mmi.ch

Ich bin Vater eines 6-jährigen Mädchens und lebe seit zwei Jahren getrennt von meiner Frau – sie wollte die Trennung. Seit drei Monaten weigert sich meine Tochter, zu mir zu kommen, und ich sehe sie höchstens noch auf dem Spielplatz. Ich glaube, sie wird von ihrer Mutter negativ beeinflusst. Was kann man da tun?

 

Ja, das sind immer besonders schwierige Situationen, wenn ein Kind sich einem Elternteil verweigert. Übrigens kommt dies nicht nur in getrennten Familien vor. Aber die Wirkung ist meist dramatisch, auch wenn es vom Kind her vielleicht nur eine vorübergehende Haltung ist. Denn als abgelehnter Elternteil fühlt man sich schnell abserviert, zurückgestossen und verletzt. Und man weiss oft nicht einmal genau, wie die Ablehnung zustande gekommen ist. Das Zusammensein mit dem Kind war doch gerade noch so gut! Der Gedanke, dass der andere Elternteil dies bewirkt hat, mit dem notabene vielleicht nicht gerade gut Kirschen essen ist, liegt dann nahe. 

Doch diese Erklärung greift in der Regel zu kurz. Meinungen, Einstellungen und Verhalten eines Kindes, also auch eine Verweigerung, entstehen nicht vor einem einzigen Hintergrund, sondern sind Resultate einer vernetzten Familiensituation. Schaut man genau hin, wird es richtig schwierig zu erkennen, wer was bewirkt hat. Und auch wenn man mal eine Wirkung und eine Ursache herausgefiltert zu haben glaubt, stellt sich immer noch die Frage, wer zuerst war: das Ei oder das Huhn. 

Wichtig erscheint mir deshalb, ihre Tochter in ihrer Haltung ernst zu nehmen und sich zu fragen, wie die Situation durch ihre Augen aussehen mag: Was alles könnten ihre Gründe sein, weshalb sie zurzeit Schwierigkeiten hat, zu Ihnen zu kommen? Sie werden sehen, wenn man sich erst mal daran macht, findet man einen ganzen Katalog von möglichen Gründen – manche haben eher mit Ihnen, andere eher mit der Mutter, dritte mit den Abläufen, vierte mit Alltagsbedürfnissen Ihres Kindes, fünfte mit einer bestimmten Entwicklungsphase, sechste vielleicht mit einer missglückten Kommunikation oder der gespannten Situation zu tun.

Apropos Kommunikation: Was sagt eigentlich die Mutter zur Verweigerungshaltung ihrer Tochter? Sicherlich hat sie sich auch schon viele Gedanken dazu gemacht, und es wäre wertvoll, sie zu erfahren! Und was die Kommunikation mit Ihrer Tochter betrifft: Kinder benötigen bei der Trennung ihrer Eltern besonders viele ehrliche Erklärungen zur Situation, damit sie sich in all dem Neuen orientieren können. Auch brauchen sie dringend die wörtliche Zusicherung, dass ihre Eltern für sie Eltern bleiben, auch wenn sie getrennt leben. 

Wie auch immer die Überlegungen zur Sicht Ihrer Tochter ausfallen, sie führen Sie zu den nächsten Schritten: Was braucht Ihre Tochter, damit sie wieder wohlgemut zu Ihnen kommen und bei Ihnen bleiben kann? Was können Sie selbst dazu beitragen, dass Ihre Tochter sich dies erneut zutraut? Und wer kann sonst noch mithelfen? Möglicherweise kann Ihre Tochter selbst gute Ideen dazu liefern. Der Wiederaufbau des Kontakts zwischen Ihnen sollte jedenfalls sorgfältig und Schritt für Schritt aufgebaut werden. Deshalb sollte vorerst alles Neue als Versuch definiert und zusammen mit Mutter und Tochter ausgewertet werden. Was lief gut, und wo war es noch schwierig? Manchmal helfen auch unkonventionelle Ideen aus der Misere. Keinesfalls darf Ihre Tochter jetzt aber zu viele negative Erfahrungen machen, sonst verstärkt sich ihre Verweigerungshaltung möglicherweise noch.

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