Eigentlich geht es mir doch gut

Sabine Brunner, lic. phil.

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

brunner@mmi.ch

Eigentlich meistere ich (20, weiblich), mein Leben recht gut. Ich habe angefangen zu studieren und jobbe nebenher, wohne in einer WG, meine Eltern unterstützen mich. Aber ich habe verschiedene Probleme, auch wenn man es mir nicht ansieht. Erstens kann ich kaum allein sein. Sobald das so ist, muss ich jemanden anrufen, chatten oder etwas abmachen. Zweitens wache ich in der Nacht oft auf, voller Angst, und kann kaum mehr einschlafen. Zudem befürchte ich, an der Uni zu versagen, und die bevorstehenden Prüfungen versetzen mich in einen totalen Alarmzustand. Ich verstehe das alles nicht und schäme mich für diese komischen Gefühle. Mir geht es doch gut!

 

Ja, eigentlich geht es Ihnen wirklich gut. Sie studieren, verdienen einen Teil ihres Geldes selbst und haben ein eigenes Zuhause. Und sie haben Freunde, an die Sie sich wenden können. Das sind Lebensumstände, die längst nicht alle haben. Und so könnten Sie tatsächlich stolz auf Ihr Leben sein und froh, sich in dieser guten Lage zu befinden... wenn nur diese komischen Gefühle nicht wären.

Denn gute Lebensbedingungen und Fähigkeiten schützen niemanden davor, Widersprüche in sich zu tragen. Auch wenn äusserlich alles in Ordnung ist, kann man innerlich an Gefühlszuständen leiden, für die es vorerst keine Erklärung gibt. 

Je nach Lebensphase gilt es manchmal vieles zur selben Zeit auf die Reihe zu bekommen – so auch in Ihrem Alter. Man muss nicht nur die Berufsausbildung in Angriff nehmen und beenden, sondern auch das Leben autonom gestalten. Nachdem sie sich als Kind und Jugendliche lange auf die Eltern und andere Erwachsene stützen konnte, wird von einer Zwanzigjährigen erwartet, dass sie ihren Alltag selbst meistert, ohne Unterstützung. Auch ist man nun ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, ausgestattet mit Rechten und Pflichten. Selbständig zu wohnen, stellt ebenfalls neue Aufgaben, die gemeistert sein wollen, und dazu kommt noch die Verantwortung für die eigenen Finanzen. Das ist viel aufs Mal und kann schon zu Stress, Angst oder Selbstunsicherheit führen, auch wenn man sich das vielleicht nicht so recht eingestehen mag, weil die neugewonnene Autonomie etwas so Wunderbares ist!

Wenn wir noch einen Blick auf die Kindheit werfen, die in Ihrem Fall nun hinter Ihnen liegt, so ist es doch so, dass nur wenige Kinderleben ohne Brüche und echt fordernde Momente verlaufen. Oft bewältigen Kinder sie ohne sichtbare Belastungsreaktionen, weil sie sehr fähig darin sind, sich auf die im Augenblick wesentlichen Anforderungen des Lebens zu konzentrieren. Nicht selten kommen jedoch vorerst weggesteckte, verdrängte innere Konflikte später wieder hoch. Und dann ist es erstmal schwer zu verstehen, was mit einem los ist.

Sie selbst können auf bemerkenswert klare Weise ihre schwierigen Gefühle beschreiben und suchen nach Antworten. Das ist eine gute Voraussetzung, um mit sich selbst wieder ins Reine zu kommen. Versuchen Sie zu verstehen, wie die schwierigen Empfindungen entstehen, was die Auslöser sein könnten und was Ihnen hilft, diese zumindest für den Moment zu bewältigen. Dass Sie sich für Ihre Gefühle schämen, heisst vielleicht, dass Sie gerne anders wären. Stimmt das, müssten Sie cool und easy durchs Leben gehen? Verlangen Sie nicht von sich, dass alles einfach geht – innere Widersprüche gehören zum Leben! Wenn Sie merken, dass Sie sich mit ihren Überlegungen im Kreis drehen, kann Ihnen eine Psychotherapie Unterstützung bieten. 

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