Wie komme ich da wieder raus?

Thomas Kern, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

kern@pptk.ch

Ich (22, weiblich) fahre jeden Tag mit dem Zug zur Arbeit. Regelmässig setzt sich ein Mann, der in einer Behinderten-Werkstatt arbeitet, zu mir und beginnt mit mir zu reden. Anfangs fand ich das noch ganz nett und ich bin auf das, was er mir erzählte, eingegangen. Mit der Zeit aber wur-de er immer aufdringlicher, und neulich machte er mir sogar einen Heiratsantrag. Meine Eltern und meine Freundinnen raten mir, ich solle ihm sagen, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Aber er hat in seinem Leben schon so viel durchgemacht, da kann ich ihn doch nicht auch noch verletzen, oder?

 

Sie sind offenbar eine junge Frau, der das Schicksal anderer Menschen nicht egal ist. Es gibt viele einsame Menschen, denen es sehr guttut, mit anderen im öffentlichen Raum in Kontakt zu kommen. Ich finde es deshalb schön von Ihnen, dass Sie sich auf ein Gespräch mit diesem Mann eingelassen haben. Sie haben allerdings auch ein Recht auf Ihre Privatsphäre, und dieses respektiert er offensichtlich immer weniger. 

Möglicherweise haben Sie ihm nicht rechtzeitig oder nicht eindeutig genug Ihre Grenzen aufge-zeigt. Vielleicht wollte er diese aber auch gar nicht wahrhaben und hat sie einfach ignoriert. Even-tuell hat er sich in seiner Phantasie ausgemalt, dass Sie sich ebenfalls eine nähere Beziehung zu ihm wünschen. Das Resultat jedenfalls ist, dass Sie in eine sehr unangenehme Situation geraten sind, in der Sie kaum mehr anders können, als ihm gegenüber deutlich zu machen, wie Sie zu ihm stehen. Das Mitleid, das Sie wegen seiner Behinderung und seines Schicksals für ihn emp-finden, sollten Sie dabei etwas in den Hintergrund stellen; es geht nun ausschliesslich um Ihren berechtigten Wunsch nach genügend Privatsphäre. 

Es ist nämlich eine völlig normale Reaktion, dass wir uns unwohl fühlen, wenn uns jemand gegen unseren Willen zu nahe kommt. Meistens sind es Empfindungen wie Unsicherheit, Anspannung, Ärger, Wut, vielleicht sogar Ekel etc., die wir dabei erleben. Möglicherweise nehmen wir die Ge-fühle aber auch körperlich wahr (Übelkeit, Engegefühl im Hals und in der Brust, Muskelspannun-gen o.ä.).

Ihr Mitreisender sollte von Ihnen erfahren, dass es Ihnen unbehaglich wird, wenn er Ihnen verbal und erst recht körperlich zu nahe kommt. Gut möglich, dass er das als Zurückweisung und Kränkung erleben wird. Ob er eine Behinderung hat oder nicht, sollte keine Rolle dabei spielen, ihm das zuzumuten. Wir alle müssen lernen, damit umzugehen, dass nicht alle unsere Wünsche in Erfüllung gehen. 

Sie können ihm dabei behilflich sein, wenn Sie ihm mithilfe von Ich-Botschaften in einem freundli-chen, aber bestimmten Ton mitteilen, dass Sie gerne mit ihm einige Worte wechseln, mit ihm aber keinen weiteren privaten Kontakt haben möchten. Wenn sich damit der Heiratsantrag nicht schon von alleine erledigt hat, könnten Sie ihm sagen, dass der Antrag Sie zwar ehrt, dass Sie ihn aber nicht annehmen möchten. Es braucht von Ihrer Seite her keine weitere Erklärungen und schon gar keine Rechtfertigung dazu.  Sollte es Ihnen schwerfallen, in deutlichen Worten mit dem Mann zu sprechen, könnte es zur Not hilfreich sein, dabei eine Ihrer Freundinnen an Ihrer Seite zu wissen. Wenn er Ihrem Wunsch nach mehr Privatsphäre auch nach zwei- bis dreimaligem Wiederholen Ihrerseits nicht nachkommt, empfehle ich Ihnen, in nächster Zeit in einen andern Wagen zu steigen oder mit einem Zugbegleiter Kontakt aufzunehmen.

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