Bin ich ein Angsthase?

Thomas Kern, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

kern@pptk.ch

Ich (m, 32) bin vor einem Jahr nach Basel gezogen und habe einige Freunde gefunden. Die meisten von ihnen gehen im Sommer im Rhein schwimmen. Voller Begeisterung wollte ich es ihnen gleichtun und stieg mit ihnen beim Tinguely-Museum ins Wasser. Kaum hatte ich keinen Boden mehr unter den Füssen, geriet ich in Panik. Todesängste überkamen mich, und ich  meinte unterzugehen. Endlich am Ufer angelangt, zitterte ich am ganzen Leib und schämte mich vor meinen Freunden. Seither traute ich mich nicht mehr in den Rhein, obwohl sie mich mehrmals mitnehmen wollten. 

Als 5-Jähriger bin ich in der Thur in eine Strömung geraten, ging unter und glaubte  zu ertrinken, bis mein Bruder mich aus dem Wasser zog. Trotzdem habe ich später schwimmen gelernt und hatte bisher sogar im Meer nie Probleme damit. Könnte da trotzdem ein Zusammenhang bestehen, oder bin ich bloss ein Angsthase?

 

Ihr erstes Rheinschwimmen war für Sie ein schlimmes Erlebnis. Ihre Freunde konnten den Rhein geniessen, aber Ihr Gehirn hat offensichtlich Alarm geschlagen, und Sie gerieten ohne erkennbare Gefahr in Todesängste. In einem fliessenden Gewässer ohne Boden unter den Füssen zu schwimmen, hat bei Ihnen die fast schon vergessenen Erinnerungen an den Vorfall in der Thur getriggert. Das bedeutet, dass mit dem ursprünglichen Ereignis zusammenhängende Gefühlserfahrungen plötzlich und in voller Wucht geweckt wurden. Die dabei heftig erlebten körperlichen Symptome und Gefühlsreaktionen bezogen sich nicht auf das jetzige, harmlose Schwimmen im Rhein, sondern auf das Erlebnis in der Thur. Sie konnten deshalb das tatsächlich vorhandene Risiko nicht mehr realistisch einschätzen. Der Vorfall in der Thur hatte auf Sie offensichtlich eine traumatisierende Wirkung. Als Kind gerieten Sie damals in Todesängste und fühlten sich einen Moment lang völlig ohnmächtig. Nachdem der Vorfall glimpflich ausging, bekam ihre erlebte Angst und deren Bedeutung für Sie wahrscheinlich nicht genügend Beachtung, sodass das Trauma nicht vollständig verarbeitet werden konnte.  Dieser traumatisierte Anteil in Ihnen scheint Sie unter normalen Umständen glücklicherweise nicht weiter zu belästigen, in einem fliessenden Gewässer wurde er jetzt aber wieder aktiviert. Nun besteht die Gefahr, dass Sie aus Angst, eine solche Panik nochmals erleben zu müssen, den Rhein zukünftig meiden werden. 

Sie könnten sich natürlich fragen, ob man unbedingt im Rhein schwimmen muss, zumal ja auch tatsächlich eine gewisse Gefahr davon ausgeht. Das würde für Sie aber offensichtlich eine Einschränkung ihrer Lebensqualität bedeuten. 

Um sich dem Schwimmen in fliessenden Gewässern anzunähern, ist es wichtig, dass Sie so akzeptierend als möglich mit Ihrer Angst umgehen. Wenn Sie sich sagen können, dass Sie weder ein Angsthase noch generell hypersensibel sind, sondern ein gut nachvollziehbares Problem damit haben, sind Sie schon einen Schritt weiter. Danach brauchen Sie möglichst viele positive Erfahrungen, sodass Ihr traumatisierter Anteil realisieren kann, dass das Schwimmen im Rhein unter Berücksichtigung gewisser Sicherheitsvorkehrungen ungefährlich ist. Anstatt gerade ins tiefe Wasser zu gehen, wären kleine Schritte sinnvoll. Wenn Sie sich von jemandem begleiten lassen, sollte er oder sie einfühlend mit ihrer Angst und Ihrer Vorsicht umgehen können. Tipp für einen Neuanfang: Beim Badehaus in der Breite kann man sehr gut in den Rhein steigen, die Strömung ist sanft, und man kann bis weit hinaus stehen. 

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