Völlig verwirrt vom Fremden

Jörg Hirsch, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

joerg.hirsch@bluewin.ch

Nach der Matur war ich (m, 21) vier Wochen in Indien. Zwei Wochen machte ich mit anderen Touristen eine Rundreise, und wir wohnten in 4- und 5-Sterne-Hotels nach westlichem Standard. Nachher reiste ich allein und erlebte Gastfreundschaft und enge Kontakte mit den Einheimischen. Doch in dieser Zeit wurde ich immer verwirrter, hatte das Gefühl, jeder könne meine Gedanken lesen, und alles, was für mich bisher klar war, geriet ins Wanken. Schliesslich brach ich meine Ferien ab und flog fluchtartig heim. Hier brauchte ich dann ein paar Wochen, um mich wieder zu normalisieren. Das Ganze hat mich sehr verunsichert. Bin ich krank?

 

Schwer zu sagen. Doch was Sie erlebt haben, kann man sicher als Entgrenzungs-Erfahrung fassen. Die völlig fremde Kultur war für Sie nicht einzuordnen. Mit Ihrer in unserer Welt entwickelten Ich-Struktur konnten Sie Ihre neuen Erlebnisse nicht integrieren und gerieten gewaltig unter Druck. Sie erfuhren einen (Kultur-)Schock und haben schliesslich die Notbremse gezogen, klugerweise.

Solche Schocks sind auch in westlichen Ländern möglich, aber viel milder, denn es gibt einen unausgesprochenen Konsens über die Realität. In Fernost, insbesondere in ländlichen, noch nicht verwestlichen Gegenden, gilt eine andere Sicht auf die Wirklichkeit. Dort lebt eine Kollektivkultur, anders als unsere individualistische westliche. Wir sind es gewohnt, die Welt mit "vernünftigem" Blick anzuschauen; die Wissenschaft ist unsere Leitkultur, nach der A nicht B sein kann und richtig nicht falsch. Wenn nicht, ist man psychotisch, psychisch krank. Dort jedoch gelten unsere Werte nur eingeschränkt. Viel wichtiger als das Ich ist das Wir.

Haben Sie vielleicht das Gefühl gehabt, auch die emotionalen Grundlagen seien völlig fremd? Ihre selbstverständliche Realität werde infrage gestellt? Das, was Sie bisher unhinterfragt für selbstverständlich hielten, habe plötzlich keine Gültigkeit mehr? Haben Sie erlebt, dass, bevor Sie einen Gedanken ganz zu Ende gedacht hatten, Ihr Gegenüber schon passend reagierte? Und dies nicht nur einmal, sondern öfter und mit verschiedenen Personen?

In der westlichen Denkweise assoziiert man solche Phänomene mit einem psychotischen Prozess, denn Telepathie und Ähnliches gehören nicht in unser Realitätsverständnis. In den östlichen (wie auch anderen, indigenen) Kulturen lebt man eine Realität, die alles miteinander verbunden sieht und auch entsprechend wahrnimmt. Die Grenzen zum Unbewussten können fliessend sein, Geister kommen nicht nur in Geschichten vor, sondern man lebt mit ihnen als Teil der Realität. Alles Humbug? So dachte man früher, als Ethnozentrismus und Kulturimperialismus noch dominanter waren als heute und andere Realitätswahrnehmungen als primitiv und unserer untergeordnet galten. Heute lernen wir, dass andere Sichten auf die Wirklichkeit neben der unseren bestehen. 

So haben Sie eine höchst wichtige Erfahrung gemacht: Sie kamen in Kontakt mit einer anderen Sicht auf die Realität, die Sie in ihrer Plötzlichkeit und Unmittelbarkeit erschreckt hat. Sie mussten aber auch erfahren, dass Sie unter grossem Druck den inneren Halt verlieren, denn plötzlich wurden auch Ihre Grenzen zum eigenen Unbewussten fliessend. Vorsicht gegenüber emotionalen Extrembelastungen ist in Zukunft gewiss angebracht. Wenn Sie sich aber Zeit lassen, um über die neuen Eindrücke nachzudenken und mit andern zu sprechen, kann diese heftige Erfahrung Ihre Sicht auf die Welt und Sie selber sehr erweitern helfen. 

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