Grenzen setzen?

Sabine Brunner, lic. phil.

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

brunner@mmi.ch

Ich bin Mutter eines fünfjährigen Mädchens. Sie ist ein kreatives, gut geratenes Kind mit vielen Spielideen, und ich bin stolz auf sie. Aber leider ist sie oft sehr wild. Die Kindergärtnerin schimpft deswegen viel mit ihr. Und auch ich habe manchmal grosse Mühe, weil sie beispielsweise nicht heimkommen will, wenn sie draussen am Spielen ist. Manchmal geht sie so weit weg, dass ich nicht mehr weiss, wo sie ist. Und meist ist sie nur ruhig, wenn sie etwas spielt, was ihr gefällt. Ich frage mich oft, ob ich ihr zu wenig Grenzen setze.

 

Zu wenige Grenzen setzen – zu viele Grenzen setzen... Diese Frage hat schon einige Erziehungsratgeber gefüllt und wird oft wie ein politisches Thema diskutiert, es gibt Fronten auf beiden Seiten und Streitgespräche. Deshalb schlage ich vor, die Blickrichtung etwas zu verschieben. 

Wenn wir unsere Umgebung betrachten, müssen wir erkennen: Wir leben in einer Welt mit vielen Begrenzungen, räumlichen wie auch zeitlichen. Unsere Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt durch enge Bebauungen, durch Strassen und Verkehr. Der zeitliche Fluss eines Tages wird unterbrochen durch Termine, Arbeitszeiten und vieles mehr. Die Agenden der Familien sind meist eng und voll.  Kinder können also keineswegs einfach spielen, wo, wie und wann sie wollen. Das aber wäre das Bedürfnis eines Kindes: Spielen bis der Hunger kommt, bis die Mama vermisst wird, bis die Ideen ausgehen oder Trost benötigt wird. 

Im psychologischen Jargon spricht man von Entwicklungsaufgaben, wenn man wichtige Anforderungen an die Entwicklung eines Kindes formulieren möchte. Als grundlegende Aufgabe wird angesehen, dass ein Kind seine Umgebung entdecken, sie ausmessen, nutzen und immer besser verstehen kann. Indem Kinder alles erforschen, erhalten sie ein Verständnis von der Welt, entfalten Intelligenz und Schaffenskraft. Der Bewegungsradius wird dabei mit zunehmendem Alter grösser. Während ein Säugling voller Interesse eine Rassel greift, sie in alle Richtungen dreht, in den Mund nimmt und schüttelt, möchte ein fünfjähriges Kind sowohl das Haus, in dem es wohnt, als auch das umliegende Gebiet bis in alle Winkel kennenlernen.

Um auf Ihre Tochter zurückzukommen, stellt sich für mich nicht die Frage, ob sie ihr mehr Grenzen setzen müssten, sondern wie sie ihr helfen können, die vorhandenen Grenzen (an-) zu erkennen und einzuhalten, während sie ihre Umgebung erkundet und ihre Fähigkeiten erweitert. Ihre Tochter braucht dafür Sie, die sie einerseits liebevoll in ihrem Tun bestärkt, ihr andererseits aber auch beharrlich und ausdauernd die Grenzen ihres Verhaltens aufzeigt, sie auf Zeitabläufe, Dringlichkeiten, Besitzverhältnisse und Gefahren aufmerksam macht.  Welche Grenzen Sie selbst als wichtig anerkennen, ist in Ihrem eigenen Ermessen. Sie als Mutter dürfen und müssen entscheiden, was Sie von Ihrer Tochter an Anpassung verlangen und worauf Sie weniger Wert legen.

Wichtig erscheint mir bei der Diskussion um Grenzen, dass es dabei ganz zentral um Ihre Beziehung geht. Etwa um das Vertrauen, das Ihre Tochter darauf hat, dass Ihre Grenzen sinnvoll und verständlich sind. Oder dass ihre Tochter sich bei Schwierigkeiten an Sie wendet, weil sie weiss, dass Sie sie bei Frustrationen trösten und ihr helfen, andere Lösungen zu finden. Rund um ‚Grenzerlebnisse’ benötigen Kinder neben klaren Ansagen nachfolgende Erklärungen. Dabei hilft es, wenn die Erwachsenen sich selbst erklären, mit ihren Bedürfnissen und Wünschen ans Kind, aber auch mit ihrer Angst und ihrem Ärger.

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