Rendezvous mit dem Ich

Susann Ziegler, lic. phil.

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

susann.ziegler@bluewin.ch

Eigentlich geht es mir (72) gut – oder sagen wir einmal: meistens geht es mir gut. Mein Familien- und Paarleben ist erfreulich, beruflich habe ich einiges erreicht und blicke zufrieden zurück. Aber es gibt Phasen, wo ich hin und her überlege, grüble, nicht weiter weiss und ein vages Gefühl habe, dass es mir besser gehen könnte, wenn ich mit irgendjemandem über mich selbst und über mein Werden, aber auch über meine kurze Zukunft nachdenken und sprechen könnte. Gibt es so jemanden?

 

Gewiss. Sie wollen offenbar weder aus einer dringenden Not heraus noch aus Krankheitsgründen über ihr Inneres nachdenken und sprechen. Tatsächlich ist es interessant und sinnbildend, wenn Sie sich eine gute GesprächspartnerIn aussuchen. Eine andere Sichtweise eröffnet neue Verstehens-Zusammenhänge – von sich selbst, von den Beziehungen, vom Eingefügt-Sein in der Umwelt. Interesse an sich selbst ist die beste Voraussetzung, um eine Selbsterfahrung im wörtlichsten Sinne anzugehen. Einleuchtenderweise ist die Qualität der GesprächspartnerIn entscheidend. Prüfen Sie diese mit Verstand und Gefühl, Sie sind ja nicht unter zeitlichem Druck.

Am geeignetsten scheint mir das in einer Psychotherapie zu geschehen, die Sie mit der entsprechenden Person definieren: Wie oft sollen die Sitzungen stattfinden, wie lange sollen sie dauern, was können Themen sein, wieviel kostet das, etc.  In der letzten Zeit hört man auch viel von «angewandter Philosophie»: Dort sind es PhilosophInnen mit eigener Praxis, die sich den existentiellen Fragen widmen. Auch TheologInnen stellen sich für solche regelmässigen Gespräche zur Verfügung. Sie werden mit Probesitzungen (üblich, aber nicht gratis) herausfinden, was Ihnen am befriedigendsten erscheint.

Ihr Gefühl, nicht ganz glücklich zu sein, ist noch sehr vage – eher eine Ahnung, dass es da noch etwas gibt, was zu entdecken wäre. Ihr Hin- und Her-Überlegen deutet möglicherweise auf eine Angst hin, dass Sie mit etwas konfrontiert werden könnten, das Ihnen unangenehm, bedrohlich scheint, eine negative Bilanz: Habe ich etwas versäumt im Leben? Habe ich mir Schuld aufgeladen? Was für einen Sinn hatte und hat mein Leben? Gibt es noch Ziele, Wünsche? Das kann in der Tat belastend werden. Umso interessanter ist deshalb das Aufspüren und Integrieren von positiven und negativen Erfahrungen. Sicher kommen Sie auch unbeachteten Gefühlen auf die Spur wie Dankbarkeit, Bewunderung für Ihre Lebensgestaltung, Stimmigkeit Ihrer Gefühle, etc.

Sie werden sich bereichert fühlen, wenn sie dieses Unternehmen angehen: Was gibt es Wertvolleres und Interessanteres, als sich über sich selbst klarer zu werden, sein Leben zu reflektieren, seine Motivationen zu diesem und jenem zu untersuchen und sich auch der Beziehungen zu Familie und Freunden bewusster zu werden! Sie lernen eine neue Wertschätzung von sich und den andern. Schon die Bemühung, diese Befindlichkeit genauer zu formulieren, kann Sie weiterbringen. Sie haben den Vorteil, nicht sofort an Lösungen denken zu müssen; Sie können auch einmal «floaten» und sich offenhalten, was auftaucht. Das lohnt sich in jedem Alter, sie haben ja auch mit 72 Jahren eine Zukunft!

An die Kosten dieser Selbsterfahrung wird die Krankenkasse nichts beisteuern, denn es besteht ja keine Störung von Krankheitswert. Was Sie bezahlen, um Selbsterfahrung, Einsichten, Erkenntnisse und Wissen über sich selbst zu erlangen, ist aber gut investiertes Geld und dient Ihrer Gesundheit im weitesten Sinne.

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