Ich habe mir angewöhnt, ab und zu tagsüber, wenn ich Zeit habe, kurz meine Frau anzurufen. Wir erzählen einander dann, was wir gerade machen, trösten uns, wenn etwas schiefgegangen ist, oder klären etwas für die nächsten Tage. Wir sind kein frischverliebtes Paar, sondern schon Jahrzehnte verheiratet; trotzdem war’s mir wohl mit unserem Ritual, bis ein Freund kürzlich sagte, das sei doch kindisch. Ist es kindisch, wenn ich meine Frau anrufe?
Für diese Frage ist natürlich zuerst einmal sie zuständig, Ihre Frau: Empfindet sie es wie Sie als stärkend, tröstlich, verbindend, zärtlich, oder eher störend, kontrollierend, bedürftig? Wahrscheinlich haben Sie ja schon darüber gesprochen – und trotzdem treibt Sie etwas um an der Bemerkung Ihres Freundes; irgendwo hat er einen Nerv getroffen.
In der Tat dünken mich das ständige Online- und Verbunden-Sein, die penetrante Frage „was machst du gerade?“, das Veröffentlichen privater Texte und Bilder oder auch Mitteilungen im Tram wie „ich bin jetzt dann gleich bei dir“ kindisch. Wie wenn viele Leute nicht mehr allein, getrennt sein könnten, nicht mehr warten könnten, sondern sich andauernd der Gegenwart eines Andern versichern müssten oder seines Einverständnisses. Das Handy wird dann zur Nabelschnur, beileibe nicht nur zwischen Mutter und Kind, sondern auch zwischen Erwachsenen. Na und?, könnte man sagen – schadet ja niemandem. Doch, würde ich entgegnen: Gefährdet die Autonomie der Beteiligten, verringert ihre Frustrationstoleranz und die Freiheit ihrer Gedanken, füllt jede drohende oder lockende Lücke, hält unbequeme Einfälle im Schach, schmälert die Bandbreite dessen, was den Weg ins Bewusstsein findet. Ähnlich wie Computer- und Handyspiele, Rauchen, Smalltalk, Blättern in Illustrierten: Formen des Zeit-Totschlagens. Bloss: Was genau soll da totgeschlagen werden?
Andersherum gedacht: Wer ist Ihre Frau für Sie in genau dem Moment, in dem Sie sie anrufen? Was würde in Ihnen passieren, wenn Sie sie dann nicht anriefen? Was genau bedeutet Ihr Ausdruck „wenn ich Zeit habe“? Ich vermute, Sie sprechen von Momenten der Leere: Da ist nichts Dringendes, vielleicht sind Sie zufrieden, etwas erledigt zu haben, oder zögern vor dem nächsten Schritt, fühlen sich ein bisschen unsicher, orientierungslos, und der Gedanke an ein kurzes Telephongespräch mit Ihrer Frau hat etwas Stärkendes. Möglicherweise ist es drei Mal dieselbe Unsicherheit: Im Moment des Telephon-Wunsches, bei der flapsigen Aussage Ihres Freundes und jetzt, da Sie sich bei mir vergewissern möchten. Die Tatsache, dass Sie sich manchmal unsicher fühlen, hätte für mich gar nichts Kindisches, verweist im Gegenteil darauf, dass Sie offen sind für innere und äussere Unwägbarkeiten. Schade (oder kindlich?) wäre es eher, wenn Sie diese Unsicherheit nicht ertrügen und sie zu lindern versuchten, indem Sie sich auf jemand andern abstützen. Schade, aber durchaus nachvollziehbar: Wenn man als Paar zusammenlebt, und erst recht, wenn man das jahrzehntelang schafft wie Sie zwei, gewinnt man an Stabilität und Gelassenheit, stützt sich gegenseitig bei all den Schwierigkeiten des Lebens. Es besteht aber die Gefahr, dass man sich zu sehr aneinander anpasst, Unterschiede vermeidet und zusehends weniger der und die ist, die man eigentlich ist. Oft schleicht sich in die Paar-Geborgenheit auch leise etwas von einer Mutter-Sohn- oder Vater-Tochter-Beziehung ein. Da wären Momente der Leere und des Eigensinns äusserst belebend.
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