Es sind immer die andern

Susann Ziegler, lic. phil.

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

susann.ziegler@bluewin.ch

Gestern hörte ich zum x-ten Mal von meinem Chef, er akzeptiere mein Verhalten nicht: Meine Rauchpausen seien zu häufig, ich käme mindestens einmal pro Woche zu spät und sei zu viel krank. Zudem sei ich unkollegial, weil ich nur für mich den Kaffee hole, etc. Ich finde, man kann sich ja mal verschlafen, und wenn ich Kopfweh habe, will ich mich wirklich nicht zur Arbeit schleppen müssen. Langsam stinkt es mir, und ich habe Lust, die Stelle zu wechseln. Wie kann ich dem Herrn beibringen, dass die Jugend heute anders tickt als zu seinen Zeiten?

 

Mir scheint Ihre Haltung, dem Chef etwas beibringen zu müssen, nicht geeignet, dem Problem auf den Grund zu gehen. Ich nehme an, Sie treffen an der nächsten Arbeitsstelle auf ähnliche Anforderungen und sind dann keinen Schritt weiter.

Laut ihrer Argumentation sind die geäusserten Kritikpunkte nicht aus der Luft gegriffen. Warum also wehren sie diese alltäglichen Forderungen als Zumutung ab? Auch mir scheint es nichts Spezielles, dass Sie pünktlich und regelmässig zur Arbeit zu erscheinen haben und für die Stimmung im Betrieb mitverantwortlich sind. Wenn Sie sich diesen Alltagsanforderungen verweigern, machen Sie sich unbeliebt und begeben sich in einen Teufelskreis. Ihr elendes Gefühl darüber wehren Sie mit dem Argument  vom Generationenunterschied ab. Sie orten die Ursachen in der Unzulänglichkeit von Personen und Situationen, nur nicht bei sich selber. Es liegt Ihnen fern, sich dafür verantwortlich zu fühlen. Es sind immer die andern.

Sie überlegen sich sogar, die Stelle zu wechseln. Denn Sie möchten geschätzt, respektiert und gelobt werden. Das ist ein sehr menschlicher Wunsch, und Sie dürfen ihm ruhig mehr Raum geben – und damit auch der Trauer darüber, dass es zurzeit anders läuft und Sie darunter leiden. Unsicherheit und geknicktes Selbstwertgefühl bewirken, dass Sie das Problem bei den andern wahrnehmen und nicht bei sich selbst. In der Psychologie nennt man diese sehr häufige Art, sich vor belastenden Gefühlen zu schützen, Projektion.

Ich kann mir vorstellen, dass Sie eine lange Geschichte haben, in der Sie viel lieblose Kritik erleben mussten. Das ist tief in Sie eingeschrieben, und dem wollen Sie endlich einen Riegel schieben. Die erneute Kritik lehnen Sie empört ab – Sie empfinden sie als weitere Zerstörung Ihrer selbst und möchten keine zusätzlichen Verunsicherungen in sich aufnehmen müssen. Darum definieren das, was kommt, als nörglerisch und altmodisch, damit Sie es weit von sich weisen können. Sie gestatten sich nicht, ihren Zweifel zu spüren. Es ist für Sie fast nicht vorstellbar, dass Sie mit Anstrengung Erfolge erreichen können. Woher kommt diese Spirale negativer Überzeugung? Welche Gedanken stecken dahinter? Welche bedrohlichen Ängste bestimmen Sie? Sie sind äusserst verwundbar geworden – wer hat sie so verletzt und geschwächt?

Die Frage, glaube ich, heisst nicht: wie ändere ich meinen Chef, sondern: was kann ich selbst bei mir anders machen? Ihr Chef hat Sie noch nicht hinausgeschmissen, er redet immer noch mit Ihnen. Wollen Sie nicht mit ihm klären, welchem Kritikpunkt er Priorität einräumt und ob er eine Idee hat, wie er Sie bei der Veränderung unterstützen könnte? Damit bekunden Sie guten Willen, und das markiert einen Neubeginn. Das ist für Sie eine grosse Herausforderung, die ich Ihnen aber zutraue. Wenn Sie ihr Verhalten besser steuern können, bekommen Sie Selbstvertrauen und ertragen Kritik besser. Danach bekommt eine Stellensuche eine ganz andere Bedeutung.

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