Vom Velo herunter schreien

Peter Schwob, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

schwob@psychotherapie-bsbl.ch

Unser Sechzehnjähriger ist voll in der Pubertät, wie man so sagt. Konkret heisst das, dass er zuhause viel herummotzt und sich gegen alles Mögliche wehrt, inkl. Hausaufgaben. Das bekommen wir aber zusammen immer irgendwie hin, und die Schule meistert er auch. Was mir im Moment Sorgen macht, ist, dass er (begeisterter Alltags-Velofahrer, der er ist) sich im Verkehr oft mit Autofahrern anlegt: Wenn ihm einer zu nahe kommt oder sonst etwas Verbotenes macht, schreit er ihn vom Sattel herunter an und erzählt uns hinterher mit geschwellter Brust davon. Ich schwanke dann zwischen Stolz und Schrecken.

 

… was ihm vermutlich beides gefällt. Ihr Erschrecken signalisiert ihm, dass er wirklich etwas Gefährliches wagt, nicht lauwarm lebt; Ihr Stolz stärkt ihm das Rückgrat, weil Sie ihm zeigen, dass Sie eine ähnliche Vorstellung von Zivilcourage,  Gerechtigkeit und Stärke haben wie er. Beides kann er in den Wirren und Zweifeln der Pubertät gut gebrauchen. Darüber hinaus sind das unmittelbare und intime Momente, in denen er erzählt und Sie daran Anteil nehmen, und sie helfen Ihnen als Familie, über die Runden zu kommen; sie wirken wie ein Blitzableiter für die gegenseitige Aggression, die in Familien mit Pubertierenden oft in der Luft liegt. 

Ich kann sein Schreien gut nachvollziehen. Man ist als Velofahrer ungeheuer verletzlich, darüber helfen weder ein moralischer Bonus, den man für sich in Anspruch nehmen mag, noch eine leider weit verbreitete unverschämte Fahrweise hinweg. Man erlebt hoch oben im Sattel heftige Gefühle zwischen Kraft, Angst und Wut, denen Luft zu machen etwas Befreiendes hat. Im Grunde gefällt mir dieser unmittelbare, nicht technisch verfremdete Kontakt auf der Strasse.

Was macht Ihnen Sorgen? Dass Ihr Sohn eine Schlägerei provozieren könnte? Diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen – sie macht wohl einen Teil des Genusses aus, den er beim Schreien empfindet; er kann dabei wunderbar üben,  seine Aggressivität zu dosieren. Oder eher, dass er sich innerlich in eine rechthaberische Position manövriert? Auch das ist leicht möglich – schliesslich hat in unserer Erzähl-Tradition David immer recht, auch oder gerade dann, wenn er den Kampf gegen Goliath verliert. Oder macht Ihnen seine Militanz zu schaffen, weil Sie stiller sind und ihn lieber stiller durchs Leben gehen sähen? 

Apropos Stille: Haben Sie genügend Streit zuhause? Ein bekannter Jugendpsychologe hat Lehrerinnen und Lehrern einmal empfohlen, sie sollten viel Kraft dafür aufwenden, Regeln auf vergleichsweise unwichtigen Gebieten durchzusetzen wie  Ordnung, Kleider und Hausaufgaben; wer das nicht tue, riskiere, dass die Jugendlichen bei den wirklich wichtigen Fragen aufsässig werden: bei Gewalt, Delinquenz, Drogen – oder Ausbildung, Essen, politischem oder religiösem Extremismus. Hinter dem Rat steht die Erkenntnis, dass Jugendliche, um sich von Eltern, Schule und den eigenen passiven Wünschen ablösen zu können, viel Auseinandersetzung brauchen und suchen. Sie wollen, nein: Sie müssen  gesehen, ernstgenommen und auf die Probe gestellt werden, sie als Personen und auch das, was sie denken und fühlen. 

Und genau dahin gehört der Streit zuhause – um vergleichsweise unwichtige Dinge wie (realistische, paritätische, nicht nur symbolische!) Mithilfe im Haushalt, Auskommen mit dem Taschengeld-Budget ohne Nachzahlung durch die Eltern und Einhalten der Zeit, die fürs Nach-Hause-Kommen ausgehandelt oder festgesetzt wurde. Oder Schreien vom Velo herunter…

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