Leidenschaft, das Salz in der Suppe

Thomas Kern, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

kern@pptk.ch

Ich (m, 45) arbeite im sozialen Bereich. Bis vor kurzem erfüllte mich meine Arbeit, und ich lebte zufrieden mit meiner Partnerin und zwei gemeinsamen Töchtern (5 und 7) zusammen. Vor einem Jahr bat mich meine ehemalige Jazz-Band, in der ich bis zur Geburt der ersten Tochter gesungen hatte, ihren schwer erkrankten Sänger zu ersetzen. Nach anfänglichem Zögern sagte ich zu, und nun bin ich so leidenschaftlich dabei, dass ich meinen Beruf am liebsten an den Nagel hängen und mich ganz der Musik widmen würde. Meine Partnerin ist aber gar nicht glücklich darüber und sieht unser Familienglück in Gefahr.

Was denken Sie? Ist das bloss eine kurzfristige Begeisterung, oder sollte ich dieser Leidenschaft nachgehen?

 

Kurzfristig scheint mir Ihre Begeisterung nicht zu sein – Musik war Ihnen ja schon früher wichtig.  Allerdings sind Sie mittlerweile für eine Familie und nicht nur für Ihr alleiniges Leben verant-wortlich. Als freischaffender Jazz-Musiker würden Sie viel weniger verdienen als jetzt. Und wenn Sie auf Tournee wären, könnten sie die Rolle des verlässlichen Vaters kaum noch ausüben. Na-türlich ist  Ihnen bewusst, dass es heikel werden könnte, ganz auf die Musik zu setzen; und doch scheint es einen Anteil in Ihnen zu geben, der sich nicht mit scheinbar vernünftigen Argumen-ten abfertigen lässt, sondern gehört werden will. Was hat er Ihnen wohl zu sagen, für welche Bedürfnisse und Motive steht er, wonach sehnt er sich? 

Vielleicht gibt es Eigenschaften, Vorlieben, Talente, die in Ihrem jetzigen Leben zu kurz kom-men. Im Alltag einer Kleinfamilie schleicht sich oft ein gewisser Trott ein. Vielleicht ist die Be-ziehung zu Ihrer Partnerin nicht mehr von derselben Leidenschaft geprägt wie zu Beginn. Gut möglich, dass Sie bei ihrer Arbeit nicht alle Seiten leben können. Vielleicht treten sogar Ernüch-terungs- und Ermüdungserscheinungen bei Ihnen auf. Könnte es sein, dass Sie über die intensi-ven Erfahrungen während eines Auftritts ihre extrovertierte Seite wieder vermehrt ausleben können? Plötzlich ist die im Alltag vermisste Leidenschaft wieder da. Dann sind Sie ganz bei sich und spüren pures Glück, wenn das Publikum Ihnen nach einem gelungenen Auftritt applaudiert. Was sollte daran schlecht sein? 

Leidenschaft im Leben zu empfinden, ist wie das Salz in der Suppe. Es macht Sie lebendig, und davon profitiert auch ihre Familie. Aber die Frage ist, wie viel Platz die Leidenschaft für die Mu-sik in Ihrem Leben einnehmen kann. Dazu hat natürlich auch Ihre Partnerin etwas zu sagen. Sie müssten Sie unbedingt frühzeitig in Ihre Pläne miteinbeziehen. Wenn es nicht ohne Verzicht auf ein professionelles Engagement  geht, könnten Sie das Singen vielleicht auch in einem weniger ambitionierten Rahmen betreiben. Sicher liessen sich auch im jetzigen Alltag wieder Gelegen-heiten finden, um verborgene Seiten und Leidenschaften zu leben. Sollten Sie allerdings zur Überzeugung kommen, nicht zufrieden leben zu können, wenn Sie der Berufung zur Musik nicht folgen, dann gäbe es wohl kein Halten mehr. Von der Verantwortung für ihre Familie wären Sie damit allerdings nicht befreit. Zumindest mit den Konsequenzen, die Sie aus  ihrem Umfeld zu spüren bekämen, müssten Sie leben lernen. Ein wahrscheinlich schmerzhafter Prozess stünde Ihnen da bevor, der die Freude an der neugewonnenen Selbstverwirklichung schnell trüben könnte. Aber, verrückter Gedanke: Genau in diesem Ringen darum, was möglich und was nötig ist, kann Ihre Leidenschaft aufleben!

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