Geschwister oder Einzelkind?

Sabine Brunner, lic. phil.

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

brunner@mmi.ch

Mein Mann und ich haben einen dreijährigen Sohn, sind glücklich mit ihm und haben keine weiteren Kinder geplant. Wir geniessen das Zusammensein und fühlen uns eigentlich auch bereits genügend gefordert, Arbeit und Familienleben unter einen Hut zu bekommen. Ich selber stamme jedoch aus einer kinderreichen Familie und frage mich, ob es nicht besser wäre, mein Kind hätte Geschwister. Irgendwie sitzt in mir die Vorstellung fest, dass Einzelkinder sich nicht wirklich gut entwickeln. Und man hört ja auch immer wieder, dass Kinder ohne Geschwister unglücklich und egoistisch seien, dass sie weder teilen noch sich in eine Gruppe eingliedern könnten. Das verunsichert mich.

 

Wie man seine Familie gestalten möchte, ist eine sehr individuelle Sache, die eigentlich jeder Mensch, jedes Paar nur für sich alleine beantworten kann. Es gibt viele unterschiedliche Familienformen, von denen einige gewählt und viele ohne bewusste Entscheidung oder gar ungewollt entstanden sind. Da wird eine allgemeine Normierung, was „besser“ sei, der einzelnen Familie nicht gerecht. Hingegen scheint mir zentral, ob man seine eigene Familienform akzeptieren kann, so wie sie ist.

Spannend ist, dass die psychologische Forschung ebenfalls keine Familienform als die bessere hervorhebt. Bei Studien zu Einzelkindern zeigt sich, dass diese sich geradesogut entwickeln wie Geschwisterkinder. Sie erleben ihre Familiensituation als zufriedenstellend und pflegen gute Beziehungen zu ihren Eltern. Sie zeigen soziales Verhalten und haben FreundInnen. Hinsichtlich ihrer Bildung geht es ihnen speziell gut, sie werden sehr gefördert. Natürlich ist es bei Einzelkindern ein Thema, wie sie genügend Erfahrungen mit anderen machen können, im Spiel, als Freunde und auch in der Auseinandersetzung. Dazu braucht es regelmässige Kontakte mit Gleichaltrigen bereits vor dem Kindergarten.

Interessanterweise, und das zeigt vielleicht unsere menschliche Fähigkeit, aus der jeweiligen Situation das Beste zu machen, beschreiben Geschwisterkinder ihre Situation ebenfalls als vorteilhaft. Sie schätzen es, SpielkameradInnen im Haus zu haben, jemanden, den sie ins Vertrauen ziehen und mit dem sie sich auseinandersetzen können. Geschwister haben genetisch grosse Ähnlichkeiten und in der Regel eine ähnliche Biographie. Das erzeugt Verbundenheit, birgt aber auch die die Gefahr von starken, belastenden Konflikten. Als schwierig wird von Geschwisterkindern erlebt, dass sie die emotionalen und materiellen Ressourcen ihrer Eltern unter sich aufteilen müssen, was manchmal zu Mangelgefühlen führt.

Mir scheint, dass sich das Vorhandensein von Geschwistern speziell dann als stärkend erweist, wenn es in der Familie schwierig wird. Wenn Eltern Streit haben, wenn sie sich trennen, wenn ein Elternteil krank wird oder sonst Probleme entstehen, teilen Geschwister ihr Schicksal und verstehen sich. Sie können sich zusammen im Spiel oder auch mit Streiten ablenken. Aber manchmal helfen auch Geschwister nichts, um Belastungen zu mindern. Und – auch Einzelkinder haben oft Vertraute, die sie in Schwierigkeiten stärken.

Ich möchte Sie deshalb ermutigen, mit ihrem Mann zusammen ihre Vorstellungen und Wünsche bezüglich weiterer Kinder ganz offen zu diskutieren. Sowohl rationale Überlegungen als auch Gefühle und völlig irrationale Gedanken sollen Platz haben. Und wie Sie sich auch entscheiden werden: Keine Situation ist perfekt, und jede Familie lebt letztlich von der Freude, die man aneinander hat.

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