Kontakt mit autistischem Mädchen?

Thomas Kern, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

kern@pptk.ch

Ich (52) bin Gotte der 13-jährigen Manuela, der Tochter meines Bruders. Sie erhielt vor eini-gen Jahren die Diagnose "atypischer Autismus". Obwohl sie intelligent ist, kommt man mit ihr nur schwer in Kontakt. Sie ist ganz auf ihre Mutter bezogen, und wenn etwas nicht so läuft, wie sie möchte, rastet sie schnell aus.  Die Familie meines Bruders ist dadurch sehr belastet. Oft schon habe ich angeboten, mit ihr etwas zu unternehmen oder sie für ein paar Tage zur Entlastung in meine Familie zu nehmen. Meine Schwägerin, die sich grösstenteils von ihrem Umfeld zurückgezogen hat, lehnt das stets mit fadenscheinigen Begründungen ab. Ich fühle mich zunehmend hilflos.

 

Die Ohnmacht, die Sie schildern, kann ich gut nachvollziehen. Sie möchten gerne – wie das im Alter Ihrer Patentochter angebracht wäre – zu ihr eine eigenständige Beziehung aufbauen und für die Familie Ihres Bruders hilfreich sein. Dies scheint aus zwei Gründen schwierig zu sein. Manuelas Eigenschaften wären wahrscheinlich noch das kleinere Hindernis; mit autisti-schen Kindern kann man in der Regel sehr wohl in eine Beziehung treten, wenn man sich auf ihre besonderen Bedürfnisse und Interessen einlässt. Aber Ihre Schwägerin mag Ihnen ihr Kind (noch) nicht anvertrauen. 

Es bleibt Ihnen vorerst nichts anderes übrig, als dies zu akzeptieren. Wenn Sie den Druck auf die Schwägerin erhöhen, verstärken Sie bloss ihre Ablehnung. Es ist davon auszugehen, dass sie noch Zeit braucht, um sich von ihrem Kind lösen zu können. Gut möglich, dass sie niemanden – nicht einmal die Gotte – mit den speziellen Eigenschaften ihrer Tochter belasten will. Dies ist bei Eltern von autistischen Kindern häufig der Fall. Sie mögen sich auch nicht den gutgemeinten, aber selten hilfreichen Erziehungstipps von anderen aussetzen und ziehen sich deshalb zurück.

Für Sie stellt sich aber jetzt die Frage, wie Sie mit der Zurückweisung umgehen. Es wäre ver-ständlich, wenn sie sich deswegen nicht nur ohnmächtig, sondern auch gekränkt, verärgert oder traurig fühlten. Natürlich könnten Sie sich zurückziehen, keine weiteren Angebote mehr machen und sogar Ihre Rolle als Gotte infrage stellen. Aber bevor Sie so weitreichende Schritte unternehmen, erscheint es mir wichtig, sich der Motive, die Ihrem Engagement für die Familie Ihres Bruders zugrunde liegen, bewusst zu werden. Warum bieten Sie Ihre Unterstüt-zung eigentlich an? Tun Sie es auch ein wenig für sich selbst, z.B. damit Sie sich besser füh-len, wenn Sie eine gute Tat vollbracht haben? Tun Sie es aus Pflichtgefühl? Dann könnten Sie ja sogar froh sein, von der Schwägerin aus der Pflicht befreit zu werden.

Möchten Sie aber ernsthaft eine nähere Beziehung  zu Manuela aufbauen, sollten Sie sich keineswegs zurückziehen. Bei ihr könnte nämlich fälschlicherweise der Eindruck entstehen, Sie hätten das Interesse an ihr verloren oder sie habe etwas falsch gemacht.

Vielleicht gibt es ja andere Möglichkeiten, als Manuela gleich zu sich zu nehmen. Sie können ihr schreiben, sich per WhatsApp mit ihr austauschen oder sich an Familienanlässen ganz bewusst ihr zuwenden. Kinder mit Autismus haben oft spezielle, manchmal auch skurrile  Inte-ressen und Sichtweisen. Lassen Sie sich darauf ein, fragen Sie nach, lassen Sie sich von Manuela ihre Weltsicht erklären, ohne sie gleich zu bewerten oder ihr ausreden zu wollen. Gut möglich, dass sie dann mit der Zeit von sich aus etwas mit Ihnen unternehmen will. Der Ablö-sungsprozess von der Mutter würde so leise unterstützt.

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