Muss ich in meinem Alter noch streiten?

Susann Ziegler, lic. phil.

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

susann.ziegler@bluewin.ch

Vor kurzem starb unsere Mutter hochbetagt und hinterliess uns drei Geschwistern überraschend eine Erbschaft, die mir für die kommende Pensionierung sehr gelegen kommt. Leider habe ich hässliche Auseinandersetzungen mit meinen Geschwistern, die mir mit Verzögerungen, mit Vorrechnen von sogenannten früheren Bezügen etc. das Leben schwer machen. Ich bin schon einmal ausfällig geworden, was mir im Nachhinein leid tut. Aber ich mag auch nicht um des Friedens willen verzichten. Bis anhin kamen wir doch ordentlich miteinander aus. Wie soll ich mich verhalten?

 

Erbschaftsangelegenheiten sind darum so konfliktträchtig, weil es vordergründig ums Geld, aber ebenso um lange verborgene Gefühle geht, um Enttäuschung, Neid, Trotz – um die ewige Sehnsucht von Kindern nach Liebe und Anerkennung ihrer Eltern. Was den Konflikt ausmacht, liegt lange zurück, entspricht aber einer (wieder auflodernden) Rivalität unter den Geschwistern. Die begehrten „Erbstücke“ ähneln einem „Nuschi“, das in der Kindheit für die Kontinuität der Beziehung zu den abwesenden Eltern stand. Diese haben Sie mit dem Tod nun endgültig verlassen, und das Erbe ist wie ein Liebespfand.

Diese symbolische Bedeutung des elterlichen Erbes ist ein Hinweis auf einen unvollständigen Loslösungsprozess, auf eine starke innere Bindung. Das Ausmass des Erbstreits zeigt, wie tief wir noch in die alten Familienkonflikte verstrickt sind – und umgekehrt: Am Erbstreit oder seinem Ausbleiben können wir ermessen, ob wir tatsächlich erwachsen geworden sind. Die Testamentseröffnung als Ritual des letzten Willens enthüllt das lang gehütete Geheimnis, ob die Liebe der Eltern zu ihren Kindern gerecht verteilt war. In der tiefsten Schicht geht es bei der Erbschaft ein letztes Mal um die Gretchenfrage jeder Eltern-Kind-Beziehung: Wie sehr werde ich geliebt? Da es darüber keine innere Gewissheit gibt, können nur die Geschwister den Vergleichsmassstab bilden.

Positiv gesehen, kann dieser Moment den Erben helfen, mit der Trauer klarzukommen. Noch einmal erhält man von den Eltern etwas geschenkt – und zusätzlich das Gefühl, dass man dem Toten etwas bedeutet hat. Und es kann, ganz profan, helfen, eine Existenz zu

sichern oder aufzubauen.

Die Liebesverteilung, die unter Geschwistern immer prekär ist, wird ein allerletztes und deshalb bedeutungsvolles Mal aktiviert. Früher hatte man ja noch die Chance, ein andermal bevorzugt zu werden und mit einer Aktivität Gefallen zu erregen. Diese Chance ist endgültig vorbei, und dies bewirkt oft eine ziemliche Verbissenheit.

Sie fragen nach möglichem Verhalten. Dass Sie um das Ihnen zustehendes Erbe ringen sollen, scheint mir klar. Im Wissen um die Zusammenhänge gelingt es Ihnen vielleicht, durch Diskussionen mit FreundInnen zu verstehen, worum genau es bei Ihnen geht. Das könnten Sie den Geschwistern auch mitteilen und idealerweise bewirken, dass auch sie etwas Entsprechendes sagen mögen. So könnte ein Gespräch mit Ihren Geschwistern entspannter vonstattengehen, und Sie könnten sich wenigstens Ausfälligkeiten ersparen. In jedem Falle ist es sinnvoll, die Rechtslage und die Emotionen (die Sie allerdings zuerst erkennen müssen) zu trennen.

Die beste Hilfe dürfte eine Mediation sein, wo unter sachlicher Aufsicht einer dafür geschulten Person nochmals geredet wird und Persönliches Platz bekommt. Dabei wäre wichtig, dies klar als Deeskalationsversuch zu bezeichnen. Die Lösungen entwickeln Sie gemeinsam. Der Lohn für die Mühen kann der Familienfriede sein.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0