Der Tod und verpasste Gelegenheiten

Jörg Hirsch, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

joerg.hirsch@bluewin.ch

Vor einigen Monaten starb mein Vater mit 62 an Krebs. Ich (m, 36), hatte als Kind mit ihm eine gute Beziehung, doch dann in der Pubertät heftigste Auseinandersetzungen. Mit 17 bin ich ausgezogen, habe mich distanziert, studiert, dann einen guten Job gefunden und eine Familie gegründet, mit der ich glücklich bin. So weit alles gut. Doch seit seinem Tod fühle ich, dass vieles ungesagt geblieben ist, dass immer noch Wut in mir ist, aber auch Bedauern und Schuldgefühle, weil ich nicht wirklich Abschied von ihm genommen habe. Was kann ich jetzt noch tun?

 

Es ist ganz selten, dass der Tod zum richtigen Zeitpunkt kommt. Oft bleibt bei Angehörigen das Gefühl zurück, die Zeit nicht genug genutzt zu haben. Es hätte noch so viel zu sagen gegeben! Schuldgefühle sind besonders dann häufig, wenn ein einvernehmlicher letzter Kontakt nicht mehr stattgefunden hat.

Sie gerieten mit Ihrem Vater in Konflikt, als Sie erwachsen wurden. Sie stellten vieles in Frage, nahmen Regeln nicht mehr hin, gingen in den Widerstand und erzeugten beim Vater Widerstand. Je nachdem, wie Ihr Vater selber seine Beziehung zu seinem Vater und seine Loslösung erlebt hatte, konnte er mit dem von Ihnen gezeigten Verhalten umgehen oder auch nicht. Sie selbst gingen dann im Unfrieden weg und bauten Ihr eigenes Leben auf. Ihren Worten entnehme ich, dass eine Wiederannäherung oder gar Versöhnung kaum oder gar nicht stattgefunden hat. Und nun ist es zu spät. Sie haben es verpasst.

Vielleicht spüren Sie nun eine Leere in sich, ein Loch, das nicht mehr zu füllen ist. Vielleicht ist zugleich mit dem Vater etwas in Ihnen gestorben. Unsere Eltern sind ja nicht nur äussere Personen, sondern etwas von ihnen schlägt sich in unserer Psyche nieder. So lebt ein Bild vom Vater weiterhin in Ihnen, in Ihren Überzeugungen, den verinnerlichten Regeln, Ihrem Gewissen. Selbst wenn Sie seine Werte und Sichtweisen nicht übernommen oder sich dagegen gewehrt haben, bleibt er eine wichtige Vergleichsgrösse.

Sie erwähnen auch Ihre Wut auf ihn. Wohl die alte Wut aus der Pubertät, die kaum angemessenen Ausdruck finden konnte. Die sich dann mit der Wut darüber vermischte, dass er sich im Tod einfach entzogen hat und Sie nun allein dastehen lässt. Und dann gibt’s wohl auch noch Ihre Wut auf sich selbst, dass Sie Kontaktmöglichkeiten verpasst, sich vielleicht sogar davor gedrückt haben. Wut auf sich, weil Sie Angst vor ihm hatten? Verweist das auf ein weiteres, tieferliegendes Muster, Dinge nicht gleich anzugehen, sondern aufzuschieben? Weichen Sie auch andernorts Anforderungen des Lebens aus?

Und dann gab es da auch noch die andere Seite ihres Vaters: Die guten Momente mit ihm, die schönen Erinnerungen, die Unterstützung, die er Ihnen gegeben hat. All dies Verpasste, Nicht-Gesagte mag sich jetzt in Ihnen melden und immer wieder von Ihnen wiederholt werden, ähnlich wie im Alltag, wenn man irgendwo eine schlechte Figur gemacht hat und dann im Geist die Szene immer wieder durchlebt im Wunsch, sie zu korrigieren.

Ich schlage Ihnen eine kleine Übung vor: Nehmen Sie sich bewusst Zeit, um an Ihren Vater zu denken. Sie können dazu auch ein Photo von ihm zu Hilfe nehmen. Achten Sie nun auf das, was in Ihnen hochkommt. Reden Sie mit ihm, sagen Sie ihm alles, was ungesagt geblieben ist. Schimpfen Sie, lassen Sie Ihren Emotionen freien Lauf. Wenn Sie die Übung abschliessen, vergessen Sie nicht, ihn zu verabschieden. Wiederholen Sie das  einige Male, idealerweise ein bis zwei Mal in der Woche.

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