Über Musikstunden nachdenken

Sabine Brunner, lic. phil.

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

brunner@mmi.ch

Mein Sohn ist zwölf. Er hat Klavierstunden, seitdem er 8-jährig ist. Nun will er plötzlich mit dem Unterricht aufhören, dabei spielt er sehr schön. Er sagt, er habe keine Lust mehr. Soll ich darauf bestehen, dass er weitermacht, oder soll ich ihn lassen? Ich selber habe nie richtig ein Instrument spielen gelernt. Deshalb freute es mich besonders, dass er so tüchtig ist.

 

Es ist schön, wenn Kinder Zugang zur Musik finden, und sinnvoll, wenn sie ihre Freizeit mit Musizieren verbringen. Sie selbst haben, wie Sie beschreiben, grosse Freude am Spiel Ihres Sohnes und an seiner Tüchtigkeit. Wunderbar!

Man weiss, dass Kinder in ihrer Entwicklung profitieren, wenn sie sich mit Musik beschäftigen. Die Rhythmik, die Orientierung am Klangverlauf,  die Fingerfertigkeit und  – beim Lied – das Verbinden von Ton und Sprache helfen, die Aufmerksamkeit zu schärfen und den Sinn für logische Abläufe zu entwickeln. Musizieren erfordert gutes Zuhören, was Kindern in Beziehungen zugutekommt. Der musikalische Vortrag fördert selbstbewusstes Auftreten, und der Stolz der Eltern auf das Spiel ihres Kindes tut das Seinige dazu. Die vielleicht wichtigste Wirkung aber ist, dass Musik das Potenzial hat, Freude zu machen, positive Gefühle auszulösen.

Nun scheinen leider Ihrem Sohn die positiven Gefühle beim Klavierspielen abhanden gekommen zu sein. Warum? Macht ihm das Musizieren insgesamt keine Freude mehr? Reut ihn die Zeit, die er für Klavierstunden investieren muss? Hat er Probleme mit der Lehrerin? Würde ihn ein anderes Instrument mehr interessieren? Vielleicht bräuchte Ihr Sohn Unterstützung – jemanden, der sich mit ihm zusammen mit der Musik befasst, damit er wieder motiviert ist. Oder ist gerade das Gegenteil der Fall, nämlich dass er sich nach mehr Freiheit, mehr Selbstbestimmung sehnt? Das würde zu seinem Alter am Anfang der Pubertät passen und wäre ein gutes Zeichen dafür, dass er mit diesem Entwicklungsschritt beschäftigt ist. Wie auch immer, es wäre gut, gemeinsam über mögliche Gründe nachzudenken.

Da es sich beim Klavierspielen um eine Freizeitbeschäftigung handelt, hat Ihr Sohn aus meiner Sicht ein gutes Mass an Selbstbestimmung darüber zugute. Freie Zeit sollte unter anderem auch ein Freiheitsgefühl erzeugen – sich frei fühlen, zu tun, was einem gerade Freude macht. Manchmal weiss man nicht so genau, was das sein könnte, und auch dafür ist die freie Zeit gut. Andere Male pendelt man zwischen Beschäftigt-Sein und Gedanken hin und her und geniesst so das Frei-Sein. Der Alltag von Kindern ist heute in der Regel mit Schule und Freizeitgestaltung recht strukturiert, sodass ihnen eventuell dieses Gefühl abhandenkommt, selbstbestimmte Zeit zur freien Verfügung zu haben. 

Sie sagen, Sie selber hätten nie richtig ein Instrument spielen gelernt. Sie fanden es daher speziell schön, dass Ihr Sohn Klavier spielt. Kann es sein, dass er einen Druck verspürt, Ihre Wünsche zu erfüllen, anstatt seine eigenen Interessen zu erkunden? Vielleicht sahen Sie ihn innerlich bereits als Konzertpianisten? Und Ihr Sohn möchte oder kann dem nicht entsprechen? Solche Erwartungen übertragen sich auf die Kinder, auch wenn man sie nicht ausspricht, kaum denkt.

Eine Idee für Sie selbst: Vielleicht wagen Sie es doch noch, ein  Musikinstrument zu erlernen? Es ist dafür nie zu spät, auch wenn Sie vielleicht kein Konzertpianist, keine Bandleaderin mehr werden – und wer weiss, vielleicht kehren sich die Rollen um, und Ihr Sohn hört Ihnen beim Musizieren zu?

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