Jetzt ist zuerst erholen dran!

Thomas Kern, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

kern@pptk.ch

Die letzte Zeit war für mich (m, 55) sehr stressig. Seit Monaten bin ich im Geschäft überlastet, und es kam es zu vielen Personalwechseln, da die Betriebs-Atmosphäre sehr angespannt ist. Abends  weiss ich kaum mehr, wo mir der Kopf steht. Privat habe ich mich zurückgezogen und sitze nur noch am Computer, um mich abzulenken; für mehr reicht meine Energie nicht aus. Ich leide an Schlafstörungen, kann abends nicht abstellen. Meine engste Arbeitskollegin hat mir geraten, gegen den Stress ein Achtsamkeitstraining zu machen; ihr habe das in einer schwierigen Lebenssituation geholfen. Was halten Sie davon?

 

Schön, dass Sie eine Kollegin haben, die Ihnen beisteht. Ob ihr Tipp im jetzigen Augenblick hilfreich ist, möchte ich aber infrage stellen. Mir scheint, dass Sie gerade etwas anderes brauchen als ein Achtsamkeitstraining. Ich entnehme Ihrer Beschreibung, dass die Arbeitssi-tuation Ihnen die Lebensfreude geraubt hat,  dass Sie sich sehr einsam fühlen und kaum mehr zur Ruhe kommen. Sie sind erschöpft, und Ihr Organismus schlägt Alarm: So kann es nicht weiter gehen. 

Ich rate Ihnen, Ihren Erschöpfungszustand ernstzunehmen und sich zuerst beim Hausarzt gründlich abklären zu lassen. Wenn Sie chronisch unter Stress stehen, kann sich das erheb-lich sowohl auf Ihre psychische als auch auf die körperliche Befindlichkeit auswirken. Auf-grund der Ergebnisse der Untersuchungen sollten dann die notwendigen Massnahmen be-sprochen werden: Wie können die Schlafprobleme behandelt werden? Braucht es eine länge-re Krankschreibung, damit Sie sich ausgiebig erholen können, um wieder Zugang zu Ihren bisherigen Freizeitbeschäftigungen und sozialen Kontakten zu finden? Eine Psychotherapie wäre angebracht, um Ihre Arbeits- und allgemeine Lebenssituation zu reflektieren: Wie ist es zu diesem Erschöpfungszustand gekommen? Was müsste sich ändern, damit das nicht wie-der geschieht? Vielleicht würden Sie neben äusseren, kaum beeinflussbaren Stressoren auch innere Antreiber entdecken (z.B. hohe Ansprüche an sich selbst, es allen recht machen wol-len etc.), auf die Sie durchaus Einfluss nehmen könnten. Begleitend zu einer Psychotherapie, sobald Ihre Situation sich wieder etwas stabilisiert hat, könnte es dann sinnvoll werden, sich mit Achtsamkeit auseinanderzusetzen. 

Achtsamkeitskurse sind gerade sehr in Mode, und in den Medien lassen sich vielerlei Ange-bote finden. Diese können – bei richtiger Anwendung – im Umgang mit Stress, Schmerzen und chronischen Erkrankungen tatsächlich hilfreich sein und auch prophylaktisch gegen Rückfälle wirken. Am besten erforscht ist MBSR (mindfulness based stress reduction), ein Programm, das der Molekularbiologe Jon Kabat Zinn in den USA entwickelt hat. An acht Abenden und einem ganzen Tag lernt man in einer Gruppe in wertschätzender Atmosphäre Methoden (z.B. Atembeobachtung, Körperübungen, Body Scan, Geh-Meditation etc.) kennen, um mit Stress und leidvollen Erfahrungen achtsamer umgehen zu können. Solche Programme dürfen aber nicht als Psychotherapie im eigentlichen Sinne verstanden werden. Sie können nur Anstösse geben und setzen einiges an Motivation und Selbstdisziplin voraus. Nur wenn die gelernten Methoden regelmässig zuhause geübt werden, ist mit einer nachhaltigen Wir-kung zu rechnen. An einem MBSR-Kurs teilzunehmen, setzt also eine gewisse Stabilität vo-raus und die Möglichkeit, genügend Zeit und Energie dafür aufzubringen. Ich glaube nicht, dass das bei Ihnen jetzt schon der Fall ist. 

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