Loslassen – wie soll das gehen?

Jörg Hirsch, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

joerg.hirsch@bluewin.ch

Unsere Tochter ist 21 und lebt seit zwei Jahren in ihrer eigenen Wohnung. Sie ist unser einziges Kind, und wir sind sehr mit ihr verbunden. Es ist ihr ein spürbares Anliegen, ihren eigenen Weg zu finden und zu gehen, und wir wollen sie dabei auch unterstützen, ohne sie erneut zu binden. Nun möchte sie  allein zu einer sechswöchigen Reise nach Marokko aufbrechen. Wir machen uns Sorgen, möchten am liebsten täglich Kontakt, doch wir wissen auch, dass wir sie loslassen müssen, damit sie ihr Eigenes finden kann. Was können wir tun, für uns und für sie?

 

Zunächst einmal stelle ich fest: Sie sind sich bewusst, dass das Thema Loslassen heisst und nicht Marokko. Auch scheinen Sie schon einige Schritte in diese Richtung gegangen zu sein: Sie akzeptieren den Wunsch Ihrer Tochter, ihren eigenen Weg zu finden, und sind sich offenbar auch klar darüber, dass jede Hilfestellung Ihrerseits schon wieder eine andere Form des Festhaltens sein könnte. Dass Sie sich Sorgen machen, ist naheliegend; wohl alle Eltern würden in dieser Situation ähnlich empfinden. Obwohl Sie den Wunsch nach täglicher Rückversicherung verspüren, wollen Sie ihm nicht einfach nachgeben, sondern sind bereit, den Sorgendruck auszuhalten.

Dass Ihre Tochter sich allein auf die Reise machen will, zeugt von Mut und auch von Vertrauen in sich selbst, dass sie das Unternehmen zu einem guten Abschluss bringen wird. Aus Ihren Zeilen ist für mich nicht erkennbar, wie sorgfältig die Reisevorbereitungen sind. Doch ich gehe davon aus, dass sie sich über Gefahren und Tücken informiert hat. Sie wird sich in einem arabischen Land aufhalten, und viel hängt davon ab, wie sie sich in dieser fremden Kultur einzufügen vermag. Doch das liegt dann nicht mehr in Ihrer Hand. Was Sie jetzt tun können, ist, das Gespräch mit ihr zu suchen, mit ihr Routen und Stationen anzuschauen, Risiken anzusprechen. Vorinformationen einzuholen, ist äusserst wichtig. Aber auch Ihre Bedenken, Sorgen und Ängste sollten Sie nicht einfach für sich behalten. Fassen Sie sie in Worte, die möglichst frei sind von moralischen Ratschlägen und Konventionen, sodass Sie Ihre Tochter in ihrer Selbstbestimmung freilassen.

Was Sie für Ihre Tochter sein können, ist der sichere Hafen, zu dem sie jederzeit zurückkehren kann. Damit zwingen Sie ihr nichts auf und geben ihr dennoch eine grundsätzliche Sicherheit. Verlangen Sie von ihr einen Minimalkontakt, sei es per SMS, WhatsApp oder ähnlich. Vereinbaren Sie Zeitpunkte für Kontaktaufnahmen, z.B. am Anfang, in der Mitte und am Schluss der Reise, die für Ihre Tochter stimmig sind, so dass Ihr Aushalten nicht über Gebühr strapaziert wird.

Sie ist eine erwachsene junge Frau mit dem Wunsch, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Ihren Job als Eltern haben Sie zum grössten Teil gemacht, dennoch bleiben Sie die Eltern. Ihr Wunsch ist es, Ihr Kind gut versorgt zu wissen – so fällt es Ihnen auch leichter, es loszulassen. Eine solche Reise ist für alle eine Fahrt ins Ungewisse, auch für Sie, und Ihre Sorgen und Ängste sind völlig OK, eine natürliche Reaktion auf eine Situation, die geradezu den Sinn hat, dass vieles unsicher bleibt. Es ist naheliegend, dass Sie den Festhalte-Wunsch jetzt stärker spüren als damals bei ihrem Umzug in die eigene Wohnung, denn auch das Gefahrenpotential ist jetzt unbestreitbar grösser.

So bleibt mir nur, Ihrer Tochter eine gute Reise zu wünschen, und Ihnen, dass Sie diese Auszeit als einen Gewinn für beide Seiten sehen können.

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