Vielleicht haben wir uns entliebt

Susann Ziegler, lic. phil.

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

susann.ziegler@bluewin.ch

Ich (34) lebe seit zehn Jahren mit meinem Freund (36). Wir hatten in dieser langen Zeit viele Höhen und Tiefen; insbesondere sein Marihuana-Konsum, seine Arbeitslosigkeit und die Tag-Nacht-Verschiebung beeinflussten unsere Beziehung sehr negativ. Viele Jahre habe ich gehofft, dass sich genau diese Punkte verändern. Nun hat er vor einem halben Jahr tatsächlich aufgehört zu kiffen und arbeitet zu 100%. Ich bin aber trotzdem nicht glücklich. Es klingt absurd, aber mir fehlt der innere Kontakt zu ihm und es ist mir häufig langweilig. Ich frage mich, ob uns nur die Gewohnheit zusammenhält und wir uns entliebt haben. Wir funktionieren im Alltag als Team sehr gut, haben aber kaum Sex. Ist es vielleicht Zeit, die Beziehung zu beenden?

 

Seit zehn Jahren leben sie in einer Auf- und Ab-Beziehung, die viele Ihrer Kräfte band. Die Beschäftigung mit den Mängeln Ihres Partners füllte Ihr Leben aus. Hoffnung und Enttäuschung wechselten sich ab. Die mangelnde Charakterstärke Ihres Freundes definierte Ihre Beziehung. Sie stellten bei ihm Fehler fest, bekämpften sie und nahmen sich damit selbst aus dem Blickfeld. Nun hat er Ihre Wünsche erfüllt, geht arbeiten, lebt abstinent. Er hat einen Veränderungswillen gezeigt, der erstaunlich und erfreulich ist (Wie geht es eigentlich ihm dabei?). Und bei Ihnen schleicht sich Leere ein. Die Langeweile in der Beziehung, der fehlende innere Kontakt kommen unerwartet. 

Eine Beziehung steht immer in einem labilen Gleichgewicht. Ihre muss jetzt neu austariert werden. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als bei sich selbst anzusetzen. Seine «Schuld» an Ihrem Hadern über das Schicksal ist vorüber. Aus Ihrer Frage geht aber hervor, dass Sie erneut in der Hoffnung leben, mehr Glück zu finden, indem Sie die äusseren Umstände verändern. Mit dieser Illusion haben sie bisher keinen Erfolg gehabt; Sie sollten sich jetzt der Realität anders stellen.

Was könnte Sie denn mehr befriedigen? Im Alltag funktionieren Sie ja ganz gut zusammen. Dieser etwas spannungslose Zustand gibt Ihnen die spannende Möglichkeit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, statt in Aktionismus zu verfallen. Hat Ihr Partner Ihnen eine leichte Depression abgenommen? Was beflügelt Sie an der Vorstellung, sich zu trennen und alleine im Leben weiterzugehen? Welche Entwicklung, welche Ziele für sich selbst streben Sie an? Haben Sie berufliche Wünsche, die Sie erfüllen könnten? Oder treibt Sie eine leise Panik um davor, Kinder zu bekommen, jetzt, wo es möglich wäre? 

Wenn Sie versuchen wollen, die Beziehung wiederzubeleben, sollten sie diese und weitere Fragen zuerst mit sich selbst (oder mit einer Therapeutin), danach aber auch mit Ihrem Freund besprechen. Nur in Kommunikation mit ihm können Sie zu einem eigenen Entscheid kommen, der nicht in Illusionen endet. Vielleicht haben Sie im Laufe der langen schwierigen Jahre verlernt, Ihren Partner zu achten und an ihn zu glauben, sodass Ihre phantasierte Abkoppelung auch mit einer gewissen Scham ihm gegenüber zu tun hat. Denn mittlerweile hat er sein Leben bewundernswert in den Griff bekommen. Ob es Zeit ist, die Beziehung mit ihm zu beenden, ist nicht beantwortbar, bevor Sie nicht die Beziehung mit sich selbst geklärt haben. Möglich, dass Sie zum Schluss kommen, sich zu trennen; in einer Partnerschaft kann es tatsächlich geschehen, dass eigene Bedürfnisse nicht mehr kompatibel sind mit denen des Partners. Wichtig dabei ist, die eigenen inneren Gründe zu verstehen.

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