Ungeliebtes Familienfest

Thomas Kern, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

kern@pptk.ch

Am 1. Advent versprach ich meiner Frau, diesmal zu ihrem Familienfest an Weihnachten mitzukommen. Da ich mich in ihrer Familie nicht richtig wohl fühle und es für mich auch sonst sehr anstrengend ist, unter vielen Leuten zu sein, hatte ich mich die letzten zwei Jahre jeweils kurzfristig abgemeldet. Am Morgen des Weihnachtstages fühlte ich mich dann aber wieder sehr unwohl, leer und antriebslos. Mein Körper erschien mir bleischwer, sodass ich mich ins Bett zurückzog, anstatt mit meiner Frau zu gehen. Natürlich wurde sie wütend auf mich und zeigte keinerlei Verständnis für meinen Zustand. Warum ist das bei mir so?

 

Familiäre Weihnachtsfeiern haben es in sich. Das Zusammensein von Menschen, die lediglich eine mehr oder weniger starke genetische Ähnlichkeit verbindet (und hier ist ja nicht einmal das der Fall), bereitet vielen Schwierigkeiten. Die hohen Erwartungen in Bezug auf Harmonie- und Verbundenheitsgefühle können einen erheblichen Druck auf alle Beteiligten ausüben und als sehr anstrengend erlebt werden.

Auch Ihr Versprechen konnte Ihnen nicht dabei helfen, Ihre unangenehmen Gefühle zu überwinden. Um herauszufinden, warum das bei Ihnen so ist, empfehle ich Ihnen, sich einige Fragen zu stellen: Was macht es so schwer, im wahrsten Sinne des Wortes, dahin zu gehen? Wie fühlt sich dieses Unwohlsein an, was genau spüren Sie dabei? Auf welche Personen oder Situationen beziehen sich diese Gefühle? Was erwarten, was befürchten Sie, wenn Sie an ein Fest Ihrer Schwieger-Familie gehen? Haben diese Gefühle etwas mit der Beziehung zu Ihrer Ehefrau zu tun? Vielleicht erleben Sie sie als illoyal, wenn sie im Kreise ihrer Familie ist? Welche anderen gesellschaftlichen Anlässe erleben Sie ebenfalls als so anstrengend? Gibt es Anlässe, bei denen dieses Unbehagen nicht auftritt? Woran könnte das liegen? Haben Sie früher prägende Erfahrungen gemacht, die noch heute nachwirken, wenn Sie unter Leuten sind? 

Von Gefühlen der Leere sprechen z.B. Menschen, die – oft schon als Kind – übersehen wurden, keinen Platz in der Gemeinschaft fanden, Dinge über sich ergehen lassen mussten oder vereinnahmt wurden, ohne sich wehren oder sich jemandem anvertrauen zu können. Menschen mit solchen schmerzhaften Erfahrungen geraten bei ähnlichen Anlässen schnell in Alarmbereitschaft, wenn auch nur geringste Anzeichen auftreten, dass sich die schlimmen Erlebnisse wiederholen könnten. Äusserst unangenehme Gefühle wie Ohnmacht oder Ausgeliefertsein können sich dann unmittelbar aufdrängen. Sind Ihnen solche Erfahrungen aus Ihrem Leben bekannt? Es stimmt: Indem man im Bett bleibt, kann man die unangenehmen Gefühle für den Moment vermeiden; damit ist das Problem allerdings nicht gelöst, und dieses Vorgehen kann einen sehr einsam machen.

Wie wäre es, wenn Sie sich für nächste Weihnachten aufgrund eines besseren Verständnisses für Ihr Unwohlsein überlegten, mit welcher für Sie förderlichen Haltung Sie an das Fest gehen könnten? Sie könnten einfach mal als Beobachter ohne jegliche Erwartung da sein oder sich die angenehmsten Leute aussuchen, mit denen Sie sprechen möchten. Sie könnten Ihre Teilnahme am Fest schon vorher zeitlich begrenzen oder sich die Möglichkeit offenlassen, sich unter gewissen Umständen zurückzuziehen. Anstatt Ihrer Frau nicht einhaltbare Versprechen zu geben, wäre es sinnvoller, denke ich, ihr mehr zu zeigen,  was Sie denken und fühlen. Vielleicht würde sie dann Ihre ambivalente Haltung gegenüber ihrer Familie weniger persönlich nehmen.

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