Ab und zu sehe ich auf der Strasse eine Mutter, die mit der einen Hand den Kinderwagen schiebt und in der andern das Handy hält, mit ihrer Aufmerksamkeit offensichtlich ganz beim Gesprächspartner irgendwo auf der Welt. Mich empört das jedes Mal. Was sagen Sie als Fachleute dazu? Kann ich als Einzelner etwas tun? Oder bin ich zu empfindlich und von gestern?
Ja, das sind Sie wohl, und ich gratuliere Ihnen dazu. Sie sprechen mir aus dem Herzen mit Ihrem Versuch, sich in das alleingelassene Kind einzufühlen. – Jetzt mal halblang, höre ich jemanden einwenden, was heisst hier alleingelassen? Mutter und Kind sind doch zusammen; wenn das Kind die Mutter wirklich braucht, muss es sich nur bemerkbar machen, und schon wendet sie sich ihm zu. Wollen Sie im Ernst junge Frauen ans Kinderbett binden wie früher? Es ist längst erwiesen, dass Kinder auch etwas davon haben, wenn ihre Eltern ein erfülltes Leben führen!
Das stimmt zweifellos, und ich wünsche allen Eltern ein gerüttelt Mass an Interessen und wichtigen anderen Menschen, damit sie sich lebendig fühlen und Lust haben, ihr Kind in diese lebendige Welt hinein zu begleiten. Es gibt ja auch das andere Extrem: Eltern, die kein anderes Thema kennen, alles durch die Mutter- oder Vater-Brille sehen, ganz auf ihr Kind fixiert sind, sich von ihm in jedem Gespräch unterbrechen lassen und ihr ganzes Glück von seinem Lächeln abhängig machen. Die kleine Majestät kennt und erträgt dann kein Nein, kein Warten, keine Geduld, ist aber sehr zur Verwunderung der Eltern trotzdem nie wirklich zufrieden. Da einen lebbaren Mittelweg zu finden, ist schwer und wahrscheinlich nur über Um- und Irrwege möglich. Solch einen Umweg könnte der obige Einwand meinen: Was soll's, wenn das Kind sich einmal allein fühlt – sobald es die Mutter ruft, reagiert sie. Alles in Butter!
Wenn es die Mutter wirklich ruft, ja. Aber was, wenn das geschilderte Verhalten normal ist, den Alltag bestimmt? Es gibt ja nicht nur Handys, sondern auch noch den Beruf, den Chatroom, Kochtöpfe, Nachbarinnen, Geschwister, Kopfschmerzen... Und wenn ein Kind oft genug erlebt hat, dass es keine Antwort bekommt auf einen Wunsch oder ein Bedürfnis, gibt es irgendwann auf, wird still und pflegeleicht, und die Mutter merkt gar nicht mehr, was sie tut, kann es nicht mehr korrigieren. Und das Kind kann nicht lernen, seine Bedürfnisse zu differenzieren und klarer zu äussern. Ein mir leider nicht persönlich bekannter Berufskollege hat einmal geschrieben: „Das Kind wird morgen die Person sein, auf die die Mutter heute Antwort gibt.“ Wenn es als Reaktion auf sein Wimmern normalerweise etwas zu essen bekommt, wird es jemand Hungriger werden und sich essend zu trösten versuchen; wenn es erlebt, dass immer etwas anderes wichtiger ist, wird es sich selber unwichtig fühlen und sich selber nicht ernst nehmen.
Von gestern? Mindestens passt, wer so empfindet, schlecht zum heute verbreiteten Lebensstil von Tempo und Multitasking, der ja nicht nur für kleine Kinder ungünstig ist, sondern von dem auch wir uns zu oft hetzen lassen. Vielleicht lässt sich daraus, wo wir schon vom direkten Kontakt sprechen, eine Art von kleinem, individuellem Rebellentum entwickeln: Trauen Sie sich, eine telefonierende Mutter anzusprechen? Nicht tadelnd, sondern eher suchend, mit dem Hinweis auf die verschiedenen Welten, in denen sie und ihr Kind leben? Ich selber habe mich noch nicht getraut, offen gesagt, vielleicht das nächste Mal...
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