Wer ist der Chef zuhause?

Peter Schwob, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

schwob@psychotherapie-bsbl.ch

Mein Mann war ein Tyrann. Zu lange blieb ich bei ihm, bekam sogar ein Kind. Nun habe ich mich endlich getrennt, meine Tochter (9) und ich leben allein, ich gebe ihr alles, was ich kann. Ein Bekannter sagte kürzlich zu ihr, zuhause sei ich der Chef, aber das empört mich: Ich will nicht der Chef über meine Tochter sein, sondern wir sind beide gleichgestellt. Sie soll nicht dasselbe erleben wie ich.

 

Nein, das ist ihr nicht zu wünschen, und ich verstehe gut, dass Sie viel daran setzen, es zu verhindern. Es könnte aber sein, dass Ihr Bekannter und Sie gar nicht so weit auseinanderliegen. Er sagte Ihrer Tochter ja nicht, sie müsse sich alles von Ihnen gefallen lassen, sondern sie könne sich auf Ihre Stärke verlassen. Und das hoffe ich für sie in der Tat auch: Dass ihre Mutter stark und fürsorglich ist. 

Das erinnert mich an das Ideal vom good government. Gemeint ist: Verantwortungsvolle Staatsführung ist effektiv, legt Rechenschaft ab, beteiligt die gesamte Bevölkerung, berücksichtigt Meinung und Bedürfnisse von Minderheiten und Schwachen, versorgt alle mit den notwendigen Gütern und Dienstleistungen, weist Schmarotzer in die Schranken. Sie ist also das Gegenteil von Tyrannei. Sie setzt ihre Macht ein, aber immer für alle, nicht für wenige. 

Nun kann man natürlich einen Staat und eine Familie nicht gleichsetzen. Kinder können ihre Eltern nicht wählen. Sie kommen völlig hilflos zur Welt und sind darauf angewiesen, dass wir Erwachsenen in ihrem Interesse stark sind – das kann im einzelnen Moment durchaus ihrem erklärten Wunsch zuwiderlaufen. Wenn ein Säugling an der Brustwarze der Mutter nagt, wird sie das nicht geschehen lassen, sondern ihm einen Finger zwischen die Zähne schieben, damit er auch morgen wieder trinken kann; wenn ein Schulkind stundenlang am Handy gamet, werden es ihm die Eltern nur noch für sehr beschränkte Zeiten zur Verfügung stellen, Protest hin oder her. Umgekehrt: An wen soll sich Ihr Kind wenden, wenn zuhause alle gleichgestellt sind und es zu Tode erschrickt, weil es ein Gespenst unter dem Bett gesehen hat? Dann gibt es ja niemanden, der stärker ist und es mit dem Gespenst aufnehmen könnte. 

Ich vermute, das ist das, was der Bekannte gemeint hat: Ein Kind braucht starke Erwachsene. Keine Tyrannen, sondern fürsorgliche, einfühlsame, unerschrockene, die es vor Angriffen von aussen schützen, aber auch seinen tyrannischen Wünschen standhalten. Keine Frage: Es gibt Erwachsene, die ihre Macht missbrauchen; dagegen hilft es aber nicht, wegzuschauen, sondern nachzudenken und zu konfrontieren. 

Schön, dass Sie sich von Ihrem Tyrannen befreit haben. Es wäre spannend, zu erforschen, wie es dazu kam, dass Sie sich ihm so lange unterworfen haben. Und natürlich wollen Sie nicht selber einer werden und auch verhindern, dass Ihre Tochter sich Ihnen oder sonst jemandem unterwirft. Ich glaube aber, genau dafür tun Sie ihr einen Dienst, wenn Sie ihr ein starkes Gegenüber sind, sehr klar für Ihre eigenen Interessen eintreten und ihr dabei helfen zu unterscheiden, welche ihrer Wünsche wirklich in ihrem Interesse sind und welche nicht. Unbequem daran ist, dass sie sich dann mit Ihnen auseinandersetzt. Vielleicht erschrecken Sie, wenn sie Sie, ausgerechnet Sie, als Tyrannin beschimpft. Lassen Sie sich nicht beirren: Sprechen Sie mit anderen Erwachsenen, überprüfen Sie, ob das, was Sie tun, wirklich das ist, was Sie wollen. Aber seien Sie Ihrem Kind eine Chefin, auf die es sich verlassen kann.

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