Krieg

Peter Schwob, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

schwob@psychotherapie-bsbl.ch

Krieg in Europa, 1500 Kilometer von uns entfernt, gleich um die Ecke. Die letzten Kriege waren leichter auf Distanz zu halten, Balkan, Naher Osten, weit weg. Aber jetzt: Nachbarn in Häusern, die auch unsere sein könnten. Und dazu die Drohung mit den Atomwaffen. 

Grosse Politik, Politik der Grossen. Da soll die Psychotherapie schweigen, sich ums Private kümmern. Nein, soll sie nicht. Es geht um Menschen, in der Psychotherapie und in der Politik. 

Empört war ich zuerst. Goliath schickt sich an, David zu überrollen, unter unsäglichen Vorwänden. Pures Machtgehabe, pure Gewalt, Menschenverachtung. Verachtung den BürgerInnen des andern Landes gegenüber, aber auch denen des eigenen. Immerhin: Aufbäumen, Schulterschluss, Solidarität. Verzweifelte, todesmutige Aktionen, späte Hilfe von aussen. Mittlerweile ist meine Angst grösser geworden als meine Empörung: Droht uns ein Atomkrieg? Geht alles kaputt, auch hier? Ohnmacht.

Ich habe als junger Mann fünfeinhalb Monate im Gefängnis gesessen für meine Vision einer gewaltfreien Schweiz und Welt. Das war hart, aber zu bewältigen. Fünfzig Jahre später kommen mir Tränen, wenn ich Fernsehbilder von jungen Leuten sehe, die Molotow-Cocktails bauen, um russische Panzer zu stoppen. Die sich darauf vorbereiten, andere junge Menschen umzubringen, die sie umbringen wollen oder müssen. Würde ich auch tödliches Benzin in Flaschen abfüllen? Ich bin froh, mich heute nicht entscheiden zu müssen. Ich denke, ich würde es tun, und erschrecke über mich selbst. Ich war naiv, damals, aber ich würde wieder denselben Weg nehmen. Bloss hilft das nichts, jetzt.

Nicht bloss Russland sei in der Ukraine eingefallen, sondern alle Länder, die dem russischen Regime dabei geholfen haben, gut zu verdienen und ein riesiges Mordarsenal aufzubauen, also auch die Schweiz. So sagt es Garri Kasparow, der Schachweltmeister. Stimmt: Wir haben mitgemacht, zugeschaut, auch ich. Mir war nicht klar, was ich da geschehen lasse, ich wollte es nicht sehen. Ich spende jetzt der Glückskette Geld für ukrainische Flüchtlinge, aber ich habe mich nie gegen russische und andere Rohstoffhändler engagiert. Ich habe jetzt eine Photovoltaikanlage (aus China!) auf dem Dach und die Gasleitung zum Haus gekappt, mich aber lange nicht darum gekümmert, dass Gas sowohl umwelt- als auch demokratiefeindlich ist.

Ich bin hin- und hergerissen zwischen Angst, Unverständnis, Empörung, Schuldgefühl, Überforderung, Hass, Gleichgültigkeit, Ohnmacht. Sie, der wichtigste Mensch in meinem Leben, sagt etwas, was mich kränkt, ich grummle, ziehe mich zurück – und erwache erst bei den Tagesschaubildern wieder: Was für ein Irrsinn, auch noch ein privates Geplänkel um irgendeine Gerechtigkeit auszufechten, wo da draussen so viel auf dem Spiel steht! Oder doch umgekehrt? Muss ich mich für mich einsetzen, gerade damit nicht aus nichts etwas Riesiges wird? 

Ich werde nicht nach Kiew reisen, um Benzin abzufüllen. Ich spende Geld, wir überlegen, ob wir Flüchtlinge aufnehmen können, ich lese, wir sprechen miteinander, um nicht verrückt zu werden, wir hoffen und haben Angst. Falls ich je verrückt würde, dann nicht wegen Putin, sondern wegen der Gedanken, die ich nicht unter einen, nämlich meinen Hut bekomme, weil sie so widersprüchlich sind, mir selber widersprechen. Und da sind wir bei der Psychotherapie: Sie hilft, alles zu denken und zu fühlen, was zu mir gehört – auch wenn es mir gar nicht passt.

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