Rolltreppen fürs Gehirn

Matthias Zehnder, Dr.

Medienwissenschafter und Autor

mz@matthiaszehnder.ch

Ein Gastbeitrag von Matthias Zehnder, Herausgeber von www.wochenkommentar.ch. Dieser Text erschien dort am 19. August 2022.

 

 

Die auflagenstärkste Publikation der Schweiz ist keine Boulevardzeitung und kein Möbelkatalog. Es ist das «Abstimmungsbüchlein» mit den Abstimmungserläuterungen des Bundesrats. Das rote Heft im A5-Format wird in der Regel vier Mal im Jahr gut fünf Millionen Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern per Post zugestellt. Es enthält die Informationen über die anstehenden Abstimmungen, die Gesetzestexte sowie die wichtigsten Argumente der Befürworter und der Gegner. Die Texte im Abstimmungsbüchlein sind manchmal recht anspruchsvoll. Ein Teil der Menschen, die das Büchlein erhalten, ist damit überfordert.

In ihrem jüngsten Staatenbericht zur Schweiz kritisiert die UNO Behindertenrechtskonvention deshalb die Schweiz, dass «Hürden für Menschen mit Beeinträchtigung bestehen, an öffentliche Informationen und Kommunikation zu gelangen, die für sie verständlich sind.» Der Vorschlag: Der Bund soll seine Abstimmungsunterlagen in so genannt «Leichter Sprache» zur Verfügung stellen. Leichte Sprache ist einfach. Sie benutzt einfache Wörter. Sie verzichtet auf Fachwörter und Fremdwörter. Sie verzichtet auf den Genetiv und den Konjunktiv. Man schreibt kurze Sätze. Die Sätze haben nur eine Aussage.

 

Leichte Sprache wird gefordert

Gedacht ist Leichte Sprache für Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen. Allerdings wären wohl sehr viel mehr Menschen froh um Leichte Sprache, denn um die Lesekompetenz in den deutschsprachigen Ländern ist es nicht gut bestellt. In der Schweiz fehlen jedem sechsten Erwachsenen jene Lese- und Schreibkompetenzen, die es braucht, um den Alltag zu bewältigen. So sieht es eine Erhebung des Bundesamtes für Statistik aus dem Jahr 2006. Wie es aktuell um die Lesekompetenz der Eidgenossen bestellt ist, wird derzeit im Rahmen einer internationalen Studie neu erhoben: PIAAC heisst die Studie, Programme for the International Assessment of Adult Competencies. Es ist eine Art Pisa-Studie für Erwachsene der OECD. Als die Studie zum ersten Mal durchgeführt wurde, stellte sich heraus, dass in Deutschland jeder sechste Erwachsene die Lesekompetenz eines Zehnjährigen hat. Auch in Deutschland kann also jeder sechste Erwachsene kaum lesen.

Es würde also vielen Menschen helfen, wenn etwa die Bundeskanzlei leichte Sprache verwenden würde. Das wird denn auch regelmässig gefordert. Doch die Umsetzung ist nicht so einfach. Denn die Texte im Abstimmungsbüchlein müssen juristisch wasserdicht sein und sie dürfen die Bürgerinnen und Bürger nicht beeinflussen. Vor allem aber: Es ist nicht nur die Sprache, die komplex ist, oft ist es auch die Sache. Nehmen wir diesen Satz aus den Unterlagen für die Abstimmung am 25. September: «Auf Zinsen aus Obligationen fällt die Verrechnungssteuer nur an, wenn die Obligationen in der Schweiz ausgegeben wurden.» Damit Sie diesen Satz verstehen, müssen Sie wissen, was eine Obligation ist, was Zinsen sind, was mit Verrechnungssteuer gemeint ist und was «Obligationen ausgeben» bedeutet. Es ist also nicht nur eine Frage der Sprache, es ist vor allem eine Frage des Weltwissens und damit der Bildung, ob Sie diesen Satz verstehen.

 

Das Video ist nicht viel verständlicher

Trotzdem steigt der Druck auf die Bundeskanzlei, die Abstimmungsinformationen verständlicher zu machen. Seit 2016 produziert sie deshalb Erklärvideos, die das Wichtigste in Kürze zu jeder Vorlage präsentieren. Die Videos zeigen zwar hübsche Grafiken, ändern aber nichts daran, dass die Zuschauer über eine gute Allgemeinbildung verfügen müssen. Der erste Satz im Video zur Vorlage über die Änderung des Verrechnungssteuergesetzes lautet: «Der Bund erhebt auf Zinseinkommen aus Obligationen die Verrechnungssteuer.» Viel verständlicher als der schriftliche Text ist das nicht. 

Die Bundeskanzlei wehrt sich gegen stärkere Vereinfachungen, weil Texte in leichter Sprache nicht mehr präzise genug seien. In Medienhäusern ist das anders: Hier ist das Publikum wichtiger als die Präzision. Fernsehmoderatoren und Onlinejournalisten schrauben lieber die Genauigkeit herunter und erreichen dafür mehr Menschen. Das ist nur logisch: Medien leben von der Quote. Sie müssen sich deshalb ihrem Publikum anpassen. Und das ist immer weniger in der Lage, einen etwas anspruchsvolleren Text zu verstehen. Denn Lesen kommt langsam, aber sicher aus der Mode. 

 

Lesen kommt aus der Mode

Einen Hinweis geben die Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (MPFS), konkret die Studie «Jugend, Information, Medien», kurz «JIM». Seit mehr als 20 Jahren untersucht die Studie das Leseverhalten der Jugendlichen. Ergebnis: Langsam, aber kontinuierlich sinkt die Zahl der Jugendlichen, die Bücher liest. Waren es 1998 noch über 40 Prozent, sind es heute noch 32 Prozent der Jugendlichen, die angeben, dass sie in ihrer Freizeit Bücher lesen. Dafür ist die Zahl der Kinder, die schon ein Smartphone besitzen, in den letzten Jahren rasant gestiegen. In der Schweiz sind heute 25 % der 6-/7-Jährigen und 60 % der 10-/11-Jährigen bereits im Besitz eines eigenen Smartphones. Und das wird selten zum Lesen eingesetzt.

Kein Wunder haben immer mehr junge Erwachsene Mühe damit, einen Text zu verstehen. Das beschränkt sich keineswegs nur auf schlecht ausgebildete Menschen. Von Lehrpersonen, die an Gymnasien unterrichten, höre ich, dass schon die Lektüre von zehn Buchseiten für immer mehr Schüler nicht mehr zu bewältigen sei. Professorinnen und Professoren beklagen sich über mangelnde Sprachfähigkeiten der Studenten. Ist das nun das übliche Klagen der Alten über die junge Generation oder verlernen tatsächlich immer mehr Menschen das Lesen und Schreiben?

 

Die Rechenkompetenz verkümmert

Um das Rechnen ist es nicht besser bestellt: Etwa jeder fünfte Erwachsene kommt über Zählen und die einfachsten Grundrechenarten nicht hinaus. Ein wichtiger Grund dafür ist erforscht: Seit es den Taschenrechner gibt, muss man nicht mehr rechnen können. Waren Taschenrechner noch bis vor ein paar Jahren Geräte, die zu Hause in der Schreibtischschublade lagen, trägt heute jeder einen leistungsfähigen Rechner mit sich herum: Ich meine natürlich das Smartphone. Es gibt deshalb kaum mehr Situationen, in denen man wirklich selber rechnen muss. Der Taschenrechner ist eine geistige Rolltreppe, die dazu führt, dass die «Muskeln» im Gehirn, die man fürs Rechnen braucht, verkümmern. Die Rechenkompetenz geht zurück. 

Dem Lesen geht es ähnlich. Die «Rolltreppen», die dazu führen, dass unsere «Lesemuskeln» verkümmern, sind vielfältig. Es beginnt damit, dass es für Kinder und Jugendliche natürlich viel einfacher ist, Videos auf dem Handy anzuschauen, als sich durch ein Buch zu lesen. Jugendliche müssen immerhin in der Schule noch lesen und schreiben – viele Erwachsene können dem Lesen dagegen fast ganz aus dem Weg gehen. Mit dem Resultat, dass immer mehr Menschen nicht mehr in der Lage sind, eine A4-Seite Text zu verstehen. Die Frage ist, wie die Gesellschaft im Allgemeinen und die Medien im Speziellen darauf reagieren sollen.

 

Benachteiligungen beseitigen

Gewöhnlich lautet die Devise heute: Inklusion! In der Schweiz gibt es zum Beispiel das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG), das die «Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen» regelt. Ziel des Gesetzes ist es, «Benachteiligungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen, denen Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind.» Das Gesetz verlangt mit anderen Worten, dass öffentlich zugängliche Bauten, Anlagen und Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs behindertengerecht gestaltet sind. Beeinträchtigte und behinderte Menschen sollen Tram und Bus, Theater und Restaurants genauso nutzen können wie alle anderen Menschen.

Man spricht in diesem Zusammenhang auch von «Barrierefreiheit»: Die öffentliche Einrichtungen sollen so gestaltet sein, dass Menschen mit Beeinträchtigungen sie ohne zusätzliche Hilfen nutzen können. Der Anspruch der Barrierefreiheit gilt auch in der Kommunikation. Seit Langem gibt es induktive Höranlagen in öffentlichen Räumen. Es gibt Gebärdensprachdolmetscher, die Ansprachen, Parlamentsdebatten und die «Tagesschau» in Gebärden übersetzen. Selbstverständlich werden Websites barrierefrei gestaltet, also so, dass Screenreader damit klarkommen. Jetzt steigt der Druck auch auf die Inhalte: Wie das Abstimmungsbüchlein sollen auch andere Inhalte in Leichter Sprache gestaltet werden, damit sie auch jene Menschen verstehen, die schlecht lesen können. Bloss: Das sind schon lange nicht mehr nur beeinträchtigte und behinderte Menschen. 

 

Geistige Rolltreppen machen dumm

Immer mehr Menschen verfügen nicht mehr über eine gute Lesekompetenz. Sie sind deshalb auf Angebote in Leichter Sprache, auf Hörinhalte oder Videos angewiesen. Die Verfügbarkeit solcher Angebote führt aber dazu, dass immer mehr Menschen nicht mehr richtige Texte lesen. Um es mit der Rolltreppe zu vergleichen: Wenn immer mehr Rolltreppen gebaut werden, steigen die Menschen immer weniger Treppen und benötigen deshalb erst recht Rolltreppen. 

Wobei der Vergleich ja hinkt. Wir sind nun schon so viele Jahre mit Fitnesspropaganda zugedröhnt worden, dass wir Rolltreppen ja nur noch mit schlechtem Gewissen benutzen. Wir wissen: 10’000 Schritte am Tag sind das Ziel – und nehmen deshalb öfter mal die Treppe. Mit den geistigen Rolltreppen ist das anders. Da gibt es keine Ziele wie zehnmal Kopfrechnen und zehn Buchseiten am Tag. Im Gegenteil: Mir scheint, Bildung ist fast schon verpönt. Irgendwann vor ein paar Jahren ist in den Medien der totale Jugendwahn ausgebrochen. Statt dass wir Kinder und Jugendliche langsam an gute Sprache und komplexe Gedanken heranführen, übt sich die Medienwelt in TikTok-Videos und veröffentlicht Blabla-Texten, wie sie früher nur in der «Bravo» standen. Wir werfen uns der Jugend an die Brust, statt dass wir uns die Jugend mal zur Brust nehmen. Aber vielleicht werd ich auch einfach alt. 

 

Dilemma zwischen Inklusion und Anspruch

Ich glaube, wir stecken in einem Dilemma. Einerseits ist es richtig, dass wir für Inklusion von behinderten und beeinträchtigten Menschen sorgen. Dass wir Rolltreppen bauen, für Übersetzung mit Gebärden sorgen, unsere Bahnhöfe in Blindenschrift anschreiben. Dazu gehören auch einfache Zugänge zu Informationen für bildungsferne Menschen. Aber das darf nicht dazu führen, dass wir zur Rolltreppengesellschaft werden. Ich finde, wir müssen weiterhin Ansprüche stellen an die Menschen. An uns selbst. Wer gehen kann, soll Treppen steigen. Wer denken will, muss lesen und zwar keine Leichte Sprache. Es ist gut, wenn wir einfache Einstiegslevel anbieten, – aber doch nicht immer und für alle. Verständlichkeit ist gut, aber es ist eine Illusion, zu meinen, die Relativitätstheorie, der kategorische Imperativ oder die Gen-Schere Crispr/Cas würden verständlicher, wenn man den Genetiv aus der Sprache verbannt. Wer Begriffe verwenden will, muss vorher etwas begriffen haben – und das heisst nun mal geistig Treppen steigen. 

 

Was meinen Sie? Ist Verständlichkeit um jeden Preis bis zur Leichten Sprache der richtige Weg für alle? Sollen wir als Gesellschaft nicht so, wie wir Ansprüche an die körperliche Fitness und Gesundheit stellen, auch Ansprüche an die geistige Fitness und Bildung stellen? Sollen wir also die Treppen steil halten und auch in den Medien, dem Abstimmungsbüchlein mehr verlangen von den Menschen? Ich bin gespannt auf Ihre Kommentare.

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