Digitale Pflegebedürftigkeit?

Monika Röder

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

kontakt@paarpraxis-basel.ch

Bald ist Weihnachten und da kommen meine Kinder nach Hause. Ich weiß, ich weiß, wir haben erst November. Aber dennoch ist bald Weihnachten und ich freue mich sehr auf sie. Sie sind zum Studium ausgeflogen, gehen ihre eigenen Wege. Ich finde das toll – aber was mache ich jetzt mit der ganzen Technik? 

Ich bin nicht technikfeindlich, ganz und gar nicht. Es war noch das vorige Jahrhundert, als ich mein erstes Handy kaufte. Das hatte Tasten, war zum Klappen und mein Mann und ich haben es gekauft, weil wir mal einen schlimmen Streit hatten, als einer mit den Kindern unterwegs war und wir den anderen nicht mehr gefunden haben. Meine erste E-Mail-Adresse stammt schon aus dem neuen Jahrtausend, gleich darauf folgte der erste Laptop. 

Die ersten zehn Jahre des neuen Jahrtausends waren eine Zeit, in der die Menschen entschieden, ob sie sich mit der neuen digitalen Welt befassen wollen oder nicht. Ich spürte intuitiv, dass ich dabei sein will und dass ich es irgendwann fürchterlich bereuen würde, wenn ich da nicht mehr mithalten könnte. Heute bin ich sehr froh darum, mich so entschieden zu haben. Ich hatte glücklicherweise auch den Support meiner Kinder, die sich mit sehr viel mehr Begeisterung auf die neuen Medien stürzten.

Doch das Leben im digitalen Zeitalter ist ganz schön hart, wenn man oder frau keinen großen Spaß daran hat. Kaum habe ich das eine kapiert, kommt schon wieder das nächste. Zuerst waren es Mails, dann SMS, dann kamen die Messengerdienste. «Okay, machen wir das auch noch mit. Wie funktioniert Whatsapp?» Die Kinder erklärten es mir und ich übte. Prompt verwechselte ich nach wenigen Tagen die Kontakte und sendete eine sehr private Nachricht in eine Nachbarschaftsgruppe… peinlich, peinlich. Netterweise antwortete eine Nachbarin, das sei ihr erst kürzlich auch passiert. Kaum flutschte irgendwann Whatsapp, wechselten die Menschen auf Threema, Signal oder anderes – und wer mitreden wollte, musste auch auf Twitter, Instagram oder mindestens Facebook sein. Wieder stellte sich die Frage: «Mache ich da mit oder nicht?» Diese Frage beschäftigt mich seit Jahren mit wechselnden Inhalten.

Besonders schlimm sind die Tage, an denen etwas nicht funktioniert und ich keine Ahnung habe, wieso. Letzte Woche funktionierte das Online-Banking nicht, der Laptop stürzte unvermittelt ab und ließ sich nicht mehr starten und mein E-Mailpostfach meldete, dass es wegen Überfüllung nur noch eingeschränkt arbeiten wolle. Ich hatte leider keinen blassen Schimmer, was jetzt zu tun war. Manchmal wünsche ich mir eine 24h-Betreuung oder zumindest Rufbereitschaft, wie es manche Senior:innen haben. Bin ich schon digital pflegebedürftig?

Heute stehe ich im Coop, möchte meinen Käse und die Erdnusscreme bezahlen, hinter mir eine ordentliche Schlange von Menschen, kein Bargeld in der Tasche und die Twint-App funktioniert nicht. Der freundliche Kassierer lädt sein Gerät ein paar Mal neu, aber meine App verweigert den Dienst. Und ich habe wieder mal keine Ahnung, wieso. Es ist einer der Momente, in denen ich mir meinen Sohn hierher wünsche. Er würde das Gerät in die Hand nehmen, zwei, drei Einstellungen prüfen und es würde wieder laufen. 

Am liebsten gebe ich es ihm in die Hand und lasse das Problem schnell von ihm lösen. Aber der Sohn hat von der Mutter gelernt, dass das Ganze nur nachhaltig ist, wenn wir es selbst können. So stellte er sich in letzter Zeit oft neben mich und sagte: «Probier du’s. Ich schaue zu und helfe bei Bedarf.» In diesen Momenten möchte ich im Dreieck springen, weil ich es vor dem Fragen ja schon selbst zehnmal probiert habe. Ich weiß ja, dass er Recht hat, aber ich möchte so gern alles abgeben, möchte, dass es andere lösen oder dass es einfach nur funktioniert. Wir leben also inzwischen in vertauschten Rollen. Ich bocke und weigere mich und regrediere zu einem trotzigen Kind, während er mit verschränkten Armen dasteht und sagt: «Mama, wenn ich es für dich mache, lernst du es nicht.» Vor zwanzig Jahren lief das anders rum. Da bockte und strampelte er und weigerte sich, die Schuhe selbst zu binden, während ich mit verschränkten Armen dastand und denselben bescheuerten Spruch aufsagte. 

 

Manchmal ist mir diese digitale Zeit einfach zu viel und ich möchte zurück in die analoge Welt der Festnetztelefone und papierenen Kalender. Dann kommen plötzlich ein paar Nachrichten von den Kindern in die Familiengruppe. Sie schicken Fotos, auf denen Sie fröhlich mit anderen feiern oder stolz ihre neuen Errungenschaften in der Studentenbude präsentieren. Und am Abend können wir miteinander telefonieren und ich sehe sie in Fleisch und Blut. Dann bin ich sehr happy, dass es diese Chatgruppen gibt. Und ich sage mir: «Bald ist Weihnachten». Dann kann ich meine Lieben endlich wieder live in meine Arme schließen. Und heimlich denke ich: «Vergiss nicht, eine Liste mit den zu erledigenden technischen Fragen zu machen». Oder wie es in einer Werbung so schön hieß: Und es geschah also, dass zu jener Zeit des Jahres alle Söhne und Töchter an die Stätten ihrer Geburt zurückkehrten, damit sie die IT-Probleme ihrer Eltern richten.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Jürgen (Freitag, 18 November 2022 22:11)

    Digitale Pflegebedürftigkeit. Uff! Ja, es ist tatsächlich so �