Unwohlsein – eine neue Gefühlsdiktatur

Susann Ziegler, lic. phil.

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

susann.ziegler@bluewin.ch

Ein progressives Musiklokal stellt die Berner Mundart-Band «Lauwarm» (bekannt für ihr Repertoire aus Reggae, Indie-World- und Pop-Musik) vor die Türe mit der Begründung, dass sich einige Leute mit dem Aussehen der Musiker unwohl fühlten. Der Shitstorm war ausgeprägt und weltweit. Die NZZ schrieb: «Zum abgebrochenen Konzert im Juli hatte der Veranstalter erklärt: Während des Konzerts kamen mehrere Menschen unabhängig voneinander auf uns zu und äusserten Unwohlsein mit der Situation. Es ging dabei um die Thematik ‚kulturelle Aneignung'. Nach einem Gespräch mit der Band haben wir uns zusammen dafür entschieden, das Konzert abzubrechen.» In einer Stellungnahme entschuldigte sich die Veranstalterin für «Sensibilisierungslücken». Man hätte das Publikum besser vor dem Auftritt «schützen müssen».

Das Thema kulturelle Aneignung wird kontrovers erörtert. Das Publikmachen dieser Absage hat tatsächlich eine breite Diskussion ausgelöst, was zu begrüssen ist. Was mir aber aufstösst, ist die dahinterliegende Idee, dass das Gefühl des Unwohlseins unbedingt vermieden werden müsse. Wie viele Leute haben sich wohl unwohl gefühlt wegen der Absage des Konzertes, nicht wegen deren Grund?

Wenn ich in ein Konzert gehe, möchte ich etwas erleben, hören, schwelgen, in Welten eintauchen, eine Überraschung erfahren – was auch immer. Dass mich das Outfit eines Musikers oder einer Musikerin irritiert, muss ich mit mir ausmachen. Wenn andere das anders mögen, zum Beispiel das Aussehen einer Band entscheidend finden oder in einer politisch korrekten Welt leben möchten, dann dürfen sie das genauso. Aber ich muss mich diesen Wünschen nicht unterordnen und für deren Erfüllung sorgen. Wie kommt es, dass ein Konzertlokal sich in vorauseilendem Gehorsam dermassen einschränkt mit dem Argument, jemand könnte sich unwohl fühlen? Irgendjemand wird sich unvermeidbar immer irgendwie unwohl fühlen.

Ich finde es menschlich, dass alle versuchen, ihr Unwohlsein zu minimieren und Harmonie zu geniessen. Dazu eignet sich vor allem der private Raum, wo ich mich in meinen Beziehungen wohl fühlen möchte und sie entsprechend gestalte. Nur: Das ist kein Zustand, sondern ein Auf und Ab während eines fortdauernden Prozesses, den ich zu optimieren versuche. Aber immer erfolgt dabei eine kleinere oder grössere, innerliche und/oder äusserliche Auseinandersetzung, um dieses Ziel für kürzere oder längere Zeit zu erreichen. Sollte es über längere Zeit und nach vielen Anstrengungen nicht mehr konstruktiv weitergehen, kann ich mich trennen und damit mein Unwohlsein (vielleicht) selbst beenden. Dasselbe gilt am Arbeitsplatz: Da kann es mir auch nicht immer wohl sein – ich habe vielleicht selbst einen üblen Tag, die Chefin ist unerträglicher Laune, die Arbeit ödet mich an oder die KollegInnen verbreiten miese Stimmung. Na und? Irgendwann stellt sich die Frage: Aushalten oder kündigen?, das muss ich als Angestellte mit mir selber ausmachen.

Wenn aber im öffentlichen Raum das Vermeiden von Unwohlsein der neue Massstab wird, finden wir uns unversehens in einer patriarchalen, bevormundenden Gesellschaft wieder, in der irgendjemand weiss, wie es mir wohl ist. Ist unsere Identität so geschwächt, dass wir keine Konflikte mehr erleben und widersprüchliche Haltungen nicht mehr diskutieren mögen, dass wir jegliche Eindeutigkeit vermeiden müssen, um nicht Unwohlsein zu erregen, dass wir uns nicht mehr zutrauen, Dilemmata auszuhalten? Ist Unwohlsein schon eine emotionale Überforderung? Warum muss der Veranstalter den Event absagen, das Publikum pampern, «Sensibilisierungs¬lücken» beichten? Warum fühlt er sich genötigt, einen Schutz vor Inkongruenz¬erlebnissen aufzubauen? Sowieso eine unmögliche Aufgabe, ausser man lebt in einer Allmachtsphantasie. Und vor allem könnte man doch erwarten, dass, wer sich unwohl fühlt, einfach den Raum verlässt oder einen anderen, vielleicht auch innerlichen Schutz aktiviert.

Interessant ist, dass hier auf unserem Weg in eine offene Gesellschaft jemand gegenläufig reagiert: Statt Diversität und Teilhabe zu fördern, wird Ausschluss geübt und die Diskussion vermieden. Dabei ist es doch klar: In offenen Gesellschaften prallen verschiedenste Meinungen und Interessen aufeinander, und da alle gleichberechtigt sind, entfacht das viele Konflikte, denen wir uns alle stellen müssen, auch ein Konzertveranstalter.

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