... pflanzte ich heute einen Apfelbaum

Peter Schwob, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

schwob@psychotherapie-bsbl.ch

Als ich das Erdloch für den jungen Kastanienbaum grub mit Pickel und Schaufel, ging er mir natürlich durch den Kopf, der schöne, hoffnungsvolle, fast trotzige Satz, der  gar nicht von Luther stammt: Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, pflanzte ich heute einen Apfelbaum. Der Weltuntergang ist ja verrückterweise zurzeit wieder einmal recht konkret vorstellbar. Putin fragt, was die Welt für einen Sinn habe, wenn es Russland nicht gäbe; Biden warnt vor einem atomaren Armageddon: Don't! Im Iran kämpfen Junge, vor allem Frauen, gegen den Würgegriff eines Altmänner-Religionsstaates, seinerseits mit Atomambitionen. Wir in der Schweiz hangeln uns Bewaffnungs- und Bündnisoptionen entlang und balancieren zwischen Energiemangellagen und der Zerstörung von Naturschutzgebieten. Und ich pickle und schaufle für ein kleines Bäumchen...

Du willst aber alt werden, bemerkte ein Freund, dem ich von meiner Aktion erzählte. Nun ja, in sechs bis acht Jahren wird mein Bäumchen Früchte tragen, sagt der Förster, wenn es dem Rindenkrebs, der Trockenheit und dem Hirsch standhält; so lange möchte ich in der Tat noch leben, mindestens. Aber mein Freund hat ja recht: Sowohl was die Weltlage betrifft als auch mein Alter, ist die Baumpflanzung gewagt. Statistisch gesehen, habe ich noch achtzehn Jahre. Aber das ist keine Zusage – einige Menschen in meiner Nähe sind gestorben, und es ist Krieg. Und trotzdem, selbst wenn ich weiss, dass auch ich sterben werde, kann ich es nicht wirklich denken, zu mir nehmen. Ein bisschen Peter Pan mag da mitschwingen, klebriges Überbleibsel aus der Welt des jungen Mannes, der nicht älter werden, nicht Abschied nehmen wollte. Ich habe Leid erlebt und miterlebt, Schockmomente durchlitten, musste Schritte machen, die ich nicht wollte, und es ging. Aber ich habe bis jetzt behütet gelebt, viel Glück gehabt und mögliche gefährliche Wahlen vermieden. Wider alles Wissen erhält das offenbar meine leise, mir selbst peinliche Phantasie am Leben, vielleicht doch irgendwie unverletzlich zu sein. 

Aber da muss es noch mehr geben, was in diese Richtung wirkt. Wünsche zum Beispiel. Freunde hatten ihren Besuch angekündigt, sagten ihn vorsichtshalber wieder ab, als sie erfuhren, dass ich mit jemandem Zeit verbracht hatte, der später positiv auf Corona getestet wurde. Ich hatte mich auf die gemeinsamen Tage sehr gefreut und viel dafür vorgekehrt. Ich bekam dann keine Krankheits-, aber sehr wohl Kränkungssymptome: Andere Treffen waren anscheinend wichtiger, unverschiebbarer als das mit mir, und ein zukünftiger Besuch war auch nur am Ende einer Reise denkbar, damit die (unausweichliche?) Ansteckung durch mich dann zuhause kuriert werden könnte. Schwer zu ertragen, dass mein Wunsch so viel stärker war als ihrer. Oder machte er mich bloss unvorsichtig, ungerecht? Der Mann des Paares ist zehn Jahre älter als ich, sein Covid-Risiko eindeutig grösser. Dass er in der Folge woanders angesteckt wurde, liess mich pendeln zwischen Sorge, beschämender Schadenfreude und Erleichterung darüber, dass nicht ich der Schuldige war. Absurd genug, mit Blick auf die zahllosen potentiellen ÜberträgerInnen. Aber ich möchte keinen Bruch, und dieser wie jeder Wunsch macht mich erpressbar.

In den Niederlanden, lese ich, spenden ÄrztInnen einen Teil ihres Lohnes dem Pflegepersonal, als Zustupf zu den Heizkosten. Pflästerlipolitik, klar, macht strukturelle Ungerechtigkeit nicht wett. Aber wenn es stimmt, dass Solidarität ein Bollwerk gegen rechten, autoritäts- und herrschaftssüchtigen, von Ausschluss und Abwertung sich nährenden Populismus ist – und womöglich auch gegen Angst und ihre kräftezehrende Verleugnung, dann kann ich meine Freude am Kastanienbaum jetzt besser einordnen: Es geht da nicht nur um mich. Er wird mich überleben, Generationen nach mir werden seine Früchte essen. Hoffentlich.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0