Knappe Psychotherapieplätze – oder: Die Verwaltung eines Mangels

Monika Röder

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

kontakt@paarpraxis-basel.ch

Seit einigen Monaten bekomme ich viele Anfragen verzweifelter Menschen für eine Psychotherapie. An manchen Tagen kommen mehrere Mails und Anrufe. Ich höre dabei  von unerträglichen Lebenslagen und großer Not. Manche Menschen schreiben schon Serienbriefe und verwechseln in ihrem Stress die Anrede, weil sie dieselbe Nachricht schon an eine andere Psychotherapeutin geschickt haben. Ich bin ihnen nicht böse. Wer psychotherapeutische Unterstützung sucht, muss viel Zurückweisung aushalten können, denn Therapieplätze sind knapp und die Wartelisten – falls überhaupt vorhanden – lang. Doch wer sich gerade in einer depressiven oder anders gearteten Krise befindet, hat kein so dickes Fell. Der Antrieb ist reduziert, Stimmung und Selbstwert sind sowieso im Keller. Auch wenn wir Psychotherapeut:innen es noch so freundlich ausdrücken, unser Nein ist eine Abweisung. Die tut weh und wirft die Hilfesuchenden wieder auf Null zurück. 

Oft werde ich von Freundinnen und Freunden gefragt: „Du hast bestimmt gerade viel zu tun, oder?“ Theoretisch ist das so, doch auch für uns Behandler:innen gibt es ein zu viel. Wir können nicht so viele Menschen aufnehmen, wie es dem Bedarf entspricht oder wie wir wollen, weil wir selbst an unsere Grenzen kommen. Ich habe mit meinen Grenzen experimentiert, habe mal einige Zeit sehr viel mehr Hilfesuchende aufgenommen. Den Effekt konnte ich deutlich an meinem eigenen Befinden ablesen: Ich war erschöpfter, gereizter, und wenn die eine Person da war, war ich in Gedanken schon bei der nächsten oder bei etwas ganz anderem. Damals habe ich beschlossen, dass ich meine persönliche Grenze selbst definieren muss. Und das tat mir gut. 

In den letzten Monaten war es wieder soweit. Ich drehte eine neue Schleife. Die vielen Nachfragen und meine vielen Absagen machten etwas mit mir. Schließlich gibt es schon Räume in meinem Kalender, in denen nichts steht, die also theoretisch auch mit Arbeit gefüllt werden könnten. Ich erhöhte meine Behandlungskapazität leicht. Hinzu kam der graue Winter, der mich selbst mit meinem Lichtbedürfnis nicht stabiler machte. Ob Zufall oder nicht: In diesen Monaten bekam ich zum ersten Mal Corona, fühlte mich häufig erschöpft und hatte mit Gelenkschmerzen zu tun. 

Was sage ich, wenn meine Patient:innen mir so etwas berichten? „Achten Sie auf die Zeichen Ihres Körpers. Was will er Ihnen sagen?“ Unser Körper hat keine andere Sprache, er kann nur über Symptome mit uns kommunizieren. Er spricht zuerst mit leiser Stimme. Wenn wir aber nicht auf ihn hören, hat er keine andere Wahl, als mit noch mehr Symptomen Alarm zu schlagen. Wenn unser eigener Organismus an seine Grenzen kommt, weil unsere Bedürfnisse nach Ruhe, Verständnis, Orientierung oder Zugehörigkeit nicht erfüllt sind, oder auch weil körperliche Bedürfnisse unterversorgt sind, wir frieren, Schmerzen haben, übermüdet oder unterzuckert sind, schaltet er in einen Stressmodus. Dieser Modus mobilisiert uns zu Kampf oder Flucht, das heißt die Muskelspannung steigt, der Puls beschleunigst sich, der Blutdruck steigt und unsere Wahrnehmung fokussiert sich auf die vermeintliche Bedrohung. Wir denken nur noch an den Schmerz, die schlimme Person oder eben das Problem, das wir haben. Andere Dinge, wie etwa nette Gesten von anderen oder schöne Dinge um uns herum, können wir in diesem Zustand nicht mehr so gut wahrnehmen. Unser Denken färbt sich tendenziell negativ, wir fühlen uns leichter angegriffen und gereizt. 

Aus diesem psychovegetativen Modus heraus können neue Probleme entstehen, die zu weiteren zwischenmenschlichen Schwierigkeiten oder körperlichen Symptomen führen können. Ein bemerkenswerter Bestandteil dieses Stressmodus‘ ist, dass wir die Verantwortung beim anderen sehen, sei es der Lebenspartner oder die -partnerin, seien es Vorgesetzte, Kinder, Nachbarn etc. In diesem Zustand unseres vegetativen Nervensystems können wir uns weniger gut selbst reflektieren. Unsere Erwartungen an uns nahestehende Personen z.B. nach Unterstützung, Fürsorglichkeit oder Rücksicht steigen, und wir verhalten uns dabei nicht wie die erwachsene, lebenserfahrene Person, die wir in Wirklichkeit sind. Im Stress regredieren wir, das heißt, wir „schrumpfen“ zum Verhalten eines Kindes oder Teenagers, der bedürftig, angepasst, fordernd oder rebellisch auftritt. Die Wahrscheinlichkeit, in der Partnerschaft oder am Arbeitsplatz in Streit und destruktive Spiralen zu geraten, wird größer. Dadurch steigt wiederum die Gesamtbelastung, und es kann zu weiteren körperlichen und/oder psychischen Symptomen oder Streiten kommen.

Wie können wir aus destruktiven Spiralen wieder herausfinden, und was hat das mit Psychotherapieplätzen zu tun? Als Psychotherapeutin bin ich ein Mensch, der Bedürfnisse und Grenzen hat, der in Mangelzustände geraten, gestresst sein oder krank werden kann. Und ich bin zugleich eine Fachperson, die weiß, wie sie sich selbst reguliert, wie sie angemessen Grenzen setzt und wie sie sich selbst versorgen kann. Und genau diese Botschaft muss ich mir in meiner aktuellen Schleife des großen Drucks wieder selbst sagen: „Ich sage nicht Nein aus Ignoranz oder Gleichgültigkeit. Ich sage Nein, weil ich für die Menschen, die sich mir anvertraut haben, weiterhin mit voller Kraft und ganzem Einsatz da sein will. Darum muss ich zu weiteren Interessent:innen Nein sagen.“ Für meine Klientinnen und Klienten bin ich ein Modell, und sie haben ein Recht darauf, dass ich genau für sie offen, präsent und reguliert bin, denn nur so bin ich wirklich hilfreich für sie. Und das ist meine Verantwortung. 

Ich mache meinen Job mit Herzblut. Was gibt es Sinnstiftenderes und Erfüllenderes, als Menschen dabei zu begleiten, zu wachsen und wieder gesünder und glücklicher zu werden? Doch das kostet Geld. Die Knappheit an Psychotherapieplätzen ist politisch so gesteuert. Sie ist nicht in meiner Verantwortung. Es ist die Verantwortung der Politik und der Gesellschaft. Eine Gesellschaft muss sich Gedanken darüber machen, inwieweit ihr nicht nur die körperliche, sondern auch die psychische Gesundheit ihrer Mitglieder ein Anliegen ist. Entsprechend muss sie dafür sorgen, dass genügend Behandlungsplätze zur Verfügung stehen. Aber das ist nicht meine Aufgabe. Ich unterstütze meine Klientinnen und Klienten und bewahre meine Grenzen. Und ich kann diesen Hinweis an die Öffentlichkeit, an die Politik und an dafür offene Menschen senden.

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