Das verordnete Du

Susann Ziegler, lic. phil.

eidg. anerkannte Psychotherapeutin

susann.ziegler@bluewin.ch

Als ich vor vielen Jahren einen Jeans-Laden in Basel aufsuchte, wurde ich von einer jungen, sympathischen Verkäuferin per Du begrüsst. Ich war irritiert, versuchte mich zu erinnern, wo ich sie kennengelernt hätte, was mich mit ihr verbinden könnte oder welche gemeinsamen Bekannten wir hätten. Die Irritation veranlasste mich, den Laden schnellstmöglich zu verlassen – Mani Matter würde hinzufügen: «Mit paar entschuldigende Wort».

Heute habe ich dazugelernt: Es ist einfach so. Was mich nicht hindert, bei meinem angelernten Sie zu bleiben – eine fast komisch wirkende Situation, wenn auch vermutlich nur für mich. Die Gegenseite bleibt meist cool.

Wenn ich nun in der Zeitung lese, dass es in vielen Betrieben üblich geworden ist, dass sich die Angestellten, von der Praktikant:in bis zur Chef:in, auf Weisung von oben hin duzen, so überlege ich mir den Sinn dieser Beziehungsregelung. Die NZZ vom 11.1.23 schreibt: «So führen viele Firmen offiziell eine Du-Kultur ein. Banken, Versicherungen, Transportunternehmen zeigen mit der Verordnung oder Empfehlung zum flächendeckenden Du, dass sie mit der Zeit gehen. Neuerdings sind die Spitäler an der Reihe, die besonders hierarchisch organisiert sind, was sich in der distanzierten Anrede spiegelt.»

Früher war das Sie oder Du eine Frage der Hierarchie, auch des Respektes. Der Antrag, einander Du zu sagen, bedeutete ein Angebot der Beziehungsregelung hin zu mehr Nähe und Vertrautheit. Heute müssen diese nicht mehr aufgebaut werden, sondern werden suggeriert oder gleich vorgeschrieben. Damit erlaubt das Du keine qualitative Aussage mehr über die Beziehung. Die Hierarchie bleibt unverändert, die Entscheidungsbefugnisse sind die gleichen wie vorher – sie  werden einfach vernebelt. Die Unterschiede sollen nicht mehr auf Anhieb sichtbar sein, wie wenn das mehr Gleichheit ermöglichen würde. Dabei werden eigentlich nur gleich und gleichwertig verwechselt.

Spitäler weisen darauf hin, damit könne die Fehlerkultur verbessert werden: Eine Angestellte könne dank des Du ihre Chef:in leichter auf einen Fehler hinweisen, als wenn sie sie mit Sie ansprechen müsste. Das bezweifle ich – ich glaube nicht, dass dies ein sprachliches Problem ist; ich halte es vielmehr für eine Haltungs- und Übungsfrage, ganz abgesehen von der gesamten Kultur eines Unternehmens. Mit Fug und Recht könnte man sogar argumentieren, die leichte Distanz, die durch das Sie ausgedrückt wird, ermögliche objektivere Kritik.

Auch wenn die Institutionen bei der Verordnung des Du betonen, wer lieber beim Sie bleiben wolle, dürfe das selbstverständlich, bleibt einem keine Wahl. Ich möchte ja nicht alle Kolleg:innen darauf hinweisen müssen, dass sie mich gefälligst zu siezen haben. Meine eigene Ausgrenzung derart selber vorzunehmen, wäre nicht gerade arbeitsmotivierend.

Ich fürchte mich vor dem Moment, wo ich als Patientin ins Spital eintreten werde und das Personal mich duzt. Ich möchte in Momenten stärkerer Regression und Abhängigkeit eine gewisse Distanz aufrechterhalten. Sie betont meine verbleibende Autonomie, die mir wesentlich ist.

Als Psychotherapeut:innen haben wir gelernt, eine gewisse Distanz zu halten und die Grenzen nicht zu verwischen (was nicht ausschliesst oder sogar erst ermöglicht, einfühlsam zu sein). Im körperlichen Bereich gilt das erst recht – Übergriffigkeit zu vermeiden, gehört zu unseren wichtigsten Werten. Eigenartigerweise kommt nun die Grenzverwischung sehr sanft durch eine ideologische Hintertüre wieder herein.

Es stört mich keineswegs, dass wir im Arbeitsbereich lockerer mit Du und Sie umgehen. Störend ist eher, eine Anweisung zu bekommen, wie wir implizit unseren gegenseitigen Kontakt zu gestalten hätten. Die Wahl, wie nahe jemand mir kommen darf und wie nahe ich jemandem komme, möchte ich selbst treffen. Und wenn es passend ist, freue ich mich auf ein Du, das dann wirklich etwas bedeutet und sich von einer Sie-Beziehung subtil unterscheidet.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0