Psychotherapie als Kunst

Peter Schwob, lic. phil.

eidg. anerkannter Psychotherapeut

schwob@psychotherapie-bsbl.ch

Im Dokumentarfilm „Rivers and Tides“ (Flüsse und Gezeiten, von Thomas Riedelsheimer, schöner im Kino, aber auch zu sehen hier) schaut man dem schottischen Künstler Andy Goldsworthy zu, wie er in freier Natur mit Blumen, Blättern, Ästen, Steinen, Schnee und Eis Skulpturen baut und Bewegungen sichtbar macht – lange, langsam, bedächtig. 

Meist sind es vergängliche Werke: Die Flut trägt einen igluförmigen Stapel von Ästen, der einem Flussstrudel nachempfunden ist, davon und löst ihn auf. Ein Luftzug bläst Blätter weg, die eben noch, Ton in Ton in verschiedenen Herbstfarben, im Gras gelegen haben. Zu Staub zermahlene Steine färben einen Bach intensiv rot, in Schlieren und Wolken, und entschwinden spurlos in den Wirbeln des Wassers. Lange baut der Künstler bei Ebbe am Strand an einer samen- oder tropfenförmigen, mannshohen Skulptur aus herumliegenden, flachen Steinen – Mal um Mal kracht sie in sich zusammen, er sinniert darüber, dass er die Steine noch nicht genügend verstanden habe, und schaut immer wieder zum Wasser, um zu wissen, wie viel Zeit die Flut ihm noch lässt, aber schliesslich steht die Figur, das Meer steigt, bedeckt das Menschenwerk mehr und mehr, verhüllt es schliesslich, die Ebbe gibt es wieder frei – und es hält dem Wasser (vorerst) stand. Eine massive Trockenmauer schlängelt sich durch einen Wald, in schönen, runden, lebensvollen Formen, und versinkt scheinbar in einem Weiher – jenseits des Weihers dröhnen Lastwagen auf einer Autobahn, die sich schnurgerade durch die Landschaft schneidet.

Goldsworthy bohrt, malt, sprayt, klebt, sprengt und betoniert nicht, er greift nicht ein in die Kreisläufe der Natur – er macht sie sichtbar, er betont etwas, was schon da ist, er versucht zu verstehen, was ist und geschieht, und es nachzuvollziehen – energisch, aber voller Ehrfurcht. Was entsteht, ist schön und neu, oft überraschend und zum Lachen, und doch so, dass es eigentlich schon immer so hätte sein können.

Der Fluss, sagt  Goldsworthy, ist ein Fluss von Steinen, Tieren, Wind, Wasser und vielem mehr; der Fluss hängt nicht allein vom Wasser ab. Wovon wir reden, ist das Fliessen. 

Der Film hat mich sehr berührt, mehr noch als die Photobücher von Goldsworthy, die ich schon kannte. Er hilft mir zu formulieren, was ich unter einer guten Psychotherapie, einer guten Stunde, einem einzelnen guten Dialog verstehe (noch lieber als gut wäre mir das Wort schön). Ich will meine PatientInnen nicht verändern, ihnen nichts aufdrängen, sie von nichts überzeugen, sie von nichts abbringen, ich weiss nur weniges besser als sie – sie leben ihr Leben, es hat sein eigenes Gesetz, und es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen. Aber sie wollen etwas: weniger leiden vielleicht, weniger Angst haben, mehr wagen, mehr lieben, öfter Urheber sein als Opfer, ihr eigenes Subjekt sein. Und manchmal, oft nach einer langen Zeit der Fremdheit und des Ausgeschlossenseins, des Herumtastens in Ereignissen und Anschuldigungen, verstehe ich etwas, verstehen wir gemeinsam etwas, was (im besten Fall jetzt gerade zwischen uns) passiert, wir können es in Worte fassen, und plötzlich sieht die Welt anders aus, schön und neu, oft überraschend und zum Lachen, oder zum Weinen, und doch so, dass sie eigentlich schon immer so hätte sein können. Und daraus entsteht dann manchmal, scheinbar mühelos, auch neues Verhalten, neues Verständnis für sich und andere.

Keine Frage: Solch ein Entwurf von Psychotherapie als Kunst der heilenden Begegnung im Moment ist ein Ideal, also eine Phantasie. Allzu oft kämpfe ich, gebe Ratschläge, finde etwas oder jemanden „daneben“, beharre darauf, dass ich etwas richtig verstanden habe, oder vertrete eine Ideologie. Und natürlich habe ich jede Menge Theorie und Technik im Kopf. Aber wirklich zufrieden bin ich nur, wenn mir, uns eine schöne Stunde gelingt. 

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