Was ist es eigentlich, was mich an Putins Krieg so erschreckt? Zuvorderst natürlich die schiere, unfassbare, erbarmungslose Gewalt, gegen die es kein Mittel zu geben scheint ausser ebenso unmenschlicher, zerstörerischer Gegengewalt. So gesehen ist es meine bodenlose Ohnmacht, die mich verstört – soweit ich sehe, das unerträglichste aller Gefühle. Ebenso erschreckt mich, dass das Bild, das ich mir seit Kinds- oder jedenfalls Jugendbeinen von der Welt gemacht und auf das ich so viel Kraft verwendet habe, ganz offensichtlich nicht taugt: Ich habe wesentliche Elemente der Realität nicht wahrhaben wollen, mich in Illusionen bewegt. Ich lande beim Gefühl der Verwirrung, des Rutschens.
Da ist ja nicht nur Putin. Da sind auch seine Unterstützer. Da ist Trump mit seinen vielen Lügen und seinen vielen Anhängern. Da sind die rechten Hetzer, auch bei uns. Da ist die Finanzindustrie mit ihrer seelenlosen, unkontrollierbaren Gier. Da sind die bereits erlebbaren und die erst absehbaren Anzeichen des Klimawandels – und ihre Leugner, Verharmloser und Profiteure. Da ist Jemen, der Sudan, Taiwan, Lampedusa, Myanmar, die Türkei. Da sind die Kommentarspalten ganz gewöhnlicher Zeitungen und Nachrichtenportale, mit geifernden Hassreden von ganz gewöhnlichen Leuten. Da ist die Kluft zwischen Handynutzung und Strahlungsangst, zwischen Autonutzung und Natursehnsucht. Ich habe mir die Welt anders vorgestellt und gewünscht und dabei den Hass und die Gier übersehen. Oder einfach das Böse?
Ich sitze in einer Psychotherapiestunde mit einem Paar zusammen. Die beiden ringen um Sauberkeits- und Zuständigkeits-Vereinbarungen, eigentlich um die Definition ihrer gemeinsamen Realität. Besser gesagt: um deren Neu-Definition. Mehr als 20 Jahre lang haben ihre alten Regeln und Sichtweisen funktioniert, mehr oder weniger, zusehends weniger. Eine Zeitlang wirkte es entlastend, wenn er sich nach aussen orientierte und sie sich mit dem eigenen Körper befasste. Dann half auch das nicht mehr, Konflikte häuften sich. Ich bewundere die zwei dafür, wie sie es jetzt wagen, das ins Auge und in Worte zu fassen, was strittig und unvereinbar ist, und trotz aller Differenzen und aufgestauten Ungeduld darum ringen, den Kontakt nicht zu verlieren. Denn es geht ja nicht nur um äusserlich-reale Abmachungen: Es geht auch darum, wer wer ist, wer was vom andern zugute hat, wer was schon das ganze Leben lang vermisst hat, wer sich selber in welcher Hinsicht fremd ist, wer sich beim andern worauf verlassen hat und jetzt ernüchtert sieht: Du bist nicht so, wie ich gemeint habe. Und ich bin auch nicht so, wie ich gemeint habe. Da ist es allemal leichter, zu schimpfen und den andern anzuklagen, als hinzunehmen, dass es ist, wie es ist. Umso berührender finde ich, dass die zwei (bis jetzt) dranbleiben und sich von der Symptombekämpfung hin zu ihrer wirklichen Beziehung bewegen.
In meinem Therapeutensessel sitzend, fühle ich mich zwar oft ohnmächtig, aber im Ganzen weiss ich, was ich will: Diese zwei PatientInnen wie andere auch durch den jetzigen Sturm begleiten, sie vor Kurzschlüssen bewahren, auf meine inneren Reaktionen horchen, auf sich abzeichnende Muster achten, das Ungesagte aufnehmen, ihnen erklären, was ich schon verstanden habe, ihnen helfen, ihre eigenen Worte zu finden. Dranbleiben, halt.
In meinen eigenen Beziehungen, ohne Therapeutensessel unter mir, ist das schwieriger. Und gegenüber der Welt, die ich nicht verstehe, ist es auch schwierig – der Boden, den ich mir erarbeitet oder zurechtgelegt habe, trägt nicht wie erhofft. War ich naiv? Es sieht so aus. Aber ich glaube ja trotzdem ans Gute und will mich dafür einsetzen. Nicht allein, zum Glück. Kürzlich war das Europäische Jugendchorfestival mit Jugendlichen aus 13 Ländern: So viel Hingabe, Zusammengehörigkeit und wunderschöne Klänge, so viel Arbeit im Hintergrund, so wenig Wettbewerb und Übertrumpfen! Und so viele, darunter zahlreiche ältere Leute, die sich davon begeistern lassen. Geht doch!
Also, wie weiter? Ich versuche, dem Bösen mehr ins Auge zu schauen und ihm klarer entgegenzutreten. Und dabei das nicht zu verraten, was naiv aussieht. Es bleibt nötig, als Kompass, wohin die Reise gehen soll.
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